Das primäre Ziel der Waldorfpädagogik ist es nicht, Heranwachsende zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft zu formen. Heranwachsende sollen durch Erziehung vor allem lernen, was sie brauchen, um sich selbständig und in Freiheit für die Menschen sowie die Erde zu interessieren. Ein Beitrag von Albrecht Schad, Henning Kullak-Ublick und Christof Wiechert.
Nach dem Ende des 1. Weltkrieges liegt Europa in Schutt und Asche. Im November 1918 macht Emil Molt Station in Dornach und hört in einem Vortrag Rudolf Steiner sagen, was jetzt zu tun sei, sei genau hinzuhorchen auf das, was die Verhältnisse erfordern (Leber, St., 2002).
Steiner erwähnt bei einem Gespräch mit Molt im Januar 1919 über das, was jetzt zu tun sei, dass man Schulen gründen solle. Am 23. April 1919 wird Steiner durch Molt aufgefordert, die Leitung einer neu zu gründenden Schule zu übernehmen. Am 30. Mai erwirbt Molt das Café Uhlandshöhe in Stuttgart mit dem dazugehörigen Gelände aus seinen privaten Mitteln. Vom 20. August bis 5. September 1919 hält Rudolf Steiner 14 Vorträge mit dem Titel «Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik», bespricht methodisch-didaktische Fragen und arbeitet seminaristisch mit 25 ausgewählten Persönlichkeiten, von denen zwölf das spätere Gründungskollegium bilden.
Am 7. September findet die feierliche Eröffnung der Waldorfschule im Stadtgarten von Bad Cannstatt in Stuttgart statt. So erfolgt die Gründung der Waldorfschule in einem atemberaubenden Tempo innerhalb weniger Monate aus der Wahrnehmung der Nöte der Zeit (siehe auch Schad, A., 2018).
Leben in den Tiefen erforschen
Interessant ist, wie Rudolf Steiner auf diese Wahrnehmung der Nöte der Zeit antwortet. Zahlreiche Menschen waren durch die Kriegsereignisse traumatisiert, viele hatten gesundheitliche Probleme. Es herrschte grosse Not. Auf diese zeitbedingten Schwierigkeiten reagierte Steiner nicht direkt. Viele Zeitgenossen wollten damals auch Antworten geben auf die Nöte der Zeit, auch schon in den Jahren vor dem 1. Weltkrieg.
In seiner kleinen Schrift «Die Erziehung des Kindes» merkte Steiner dazu allerdings bereits 1907 an: «Wer Vorschläge machen will, wie es in der Zukunft geschehen soll, der darf sich nicht damit begnügen, das Leben nur an seiner Oberfläche kennenzulernen. Er muss es in den Tiefen erforschen» (Steiner, R., 1907). Und dann heisst es weiter: «Die Aufgabe, eine das Wesen des Menschenlebens umfassende praktische Weltauffassung zu geben, muss ihrer ganzen Anlage nach die Geisteswissenschaft haben. (…) Diese Voraussetzungen wurzeln nämlich einzig und allein in der wahren Lebenserkenntnis. Wer das Leben erkennt, der wird nur aus dem Leben selbst heraus sich seine Aufgaben stellen können. Er wird keine Willkürprogramme aufstellen; denn er weiss, dass in der Zukunft keine anderen Grundgesetze des Lebens herrschen werden als in der Gegenwart. Der Geistesforschung wird daher notwendigerweise die Achtung vor dem Bestehenden zukommen. Mag sie in demselben noch so viel Verbesserungsbedürftiges finden: Sie wird nicht ermangeln, in diesem Bestehenden selbst die Keime der Zukunft zu sehen. (…) Gerade deshalb muss die geisteswissenschaftliche Vertiefung in das Wesen des Menschen die fruchtbarsten und am meisten praktischen Mittel liefern bei der Lösung der wichtigsten Lebensfragen der Gegenwart»(Steiner, R., 1907).
In dem obigen Zitat wird von der geisteswissenschaftlichen Vertiefung in das Wesen des Menschen gesprochen. 1923 spricht er davon, dass Anthroposophie «bloss eine Versuchsmethode des allgemein Menschlichen und der allgemeinen Welterscheinungen sein will»(Steiner, R., 1991). Auch im Titel «Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik» wird ausgesprochen, dass in diesen Vorträgen nicht die Entwicklung eines konkreten Menschen geschildert wird, nicht die Entwicklung eines Menschen von einem bestimmten Land oder Kontinent. Steiner geht vielmehr auf das Wesen des Menschen, auf das «Allgemeine» des Menschen ein. Er beschreibt das, was alle Menschen auf der Erde verbindet: die Entwicklung des allen Menschen innenwohnenden Potenzials, ungeachtet ihrer ethnischen, kulturellen, religiösen oder sozioökonomischen Herkunft und Lebensumstände. Waldorfpädagogik kann überall auf der Erde praktiziert werden, da wir überall auf der Erde echte, vollwertige, gleichberechtigte Menschen sind. Im konkreten Menschen differenziert man sich dann in die Besonderheiten, die leiblich mit dem Geschlecht, der geographischen Herkunft, den kulturellen und religiösen Lebensumständen zusammenhängen.
Dreigliederung des menschlichen Leibes
Bereits lange vor der Gründung der Waldorfschule forschte Rudolf Steiner intensiv an der Frage, wie das Seelische mit dem Physisch-Leiblichen zusammenhängt. Die Frage konnte er lösen, nachdem er die Dreigliederung des menschlichen Leibes entdeckt hatte. 1917 skizzierte er diesen Zusammenhang auf wenigen Seiten in dem Anhang des Buches «Von Seelenrätseln»: Das Denken hat als leibliche Grundlage die Nervenorganisation. Das ist heute allgemein anerkannt. Das Fühlen hat als leibliche Grundlage die lebenslang rhythmisch arbeitenden Organe des mittleren Systems, Atmung und Herz-Kreislauf. Und das Wollen hat als leibliche Grundlage die Stoffwechselorgane des Bauchraumes und die Gliedmassen. Im Denken können wir hellwach sein, im Fühlen bewegen wir uns mehr in einem träumenden Bewusstseinszustand und das Wollen als Tätigkeit wird nicht bewusst erlebt, sondern nur «in jenem ganz dumpfen (Grade), der im Schlaf vorhanden ist» (Steiner, R., 1917, S. 153).
Steiner legte dabei grossen Wert auf die Tatsache, dass es sich hierbei nicht um eine Dreiteilung des Menschen, sondern um eine funktionelle Gliederung handelt, deren Prozesse in allen Organen unterschiedlich wirksam sind, im Körperbau des Menschen aber augenfällig in der geschilderten Gliederung in Erscheinung treten. Später ist diese Entdeckung weiter ausgearbeitet worden (siehe auch Schad, W., 2012).
In der schon angeführten Schrift «Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft» wird gesagt, dass sich der Mensch in Siebenjahresrhythmen entwickeln würde. Wir kennen aber aus der heutigen Entwicklungspsychologie keine Schilderung eines Siebenjahresrhythmus. Wie kann man das verstehen? In einem Vortrag vom 16.04.1912 (Steiner, R., 1912) betonte Steiner, dass sich der Mensch nicht in einem starren Siebenjahrestakt entwickle, sondern dass die Berücksichtigung der aufeinander aufbauenden Entwicklungsschritte vielmehr eine pädagogische Aufgabe in der Erziehung von Kindern und Jugendlichen sei (Schad, A., 2012). «Aber wenn durch die Mithilfe der erziehenden Erwachsenen der Anschluss an diesen Siebenjahresrhythmus gefunden wird, dann kann das individuelle Schicksal wieder mit dem in Beziehung treten, was alle Menschen miteinander verbindet: mit dem Menschheitlichen»(Schad, W., 1992).
Wahrheit, Schönheit und Güte
Es ist also eine kulturelle Aufgabe und Tat, das menschliche Leben in Jahrsiebte zu unterteilen: Es geht um die Wahrnehmung biographischer Entwicklungsschritte in der sukzessiven Weltaneignung durch die Kinder und Jugendlichen, die trotz ihrer jeweils individuellen Ausprägung allen Menschen gemeinsam sind. Das wirkt unterstützend und wohltuend für die Biografie, und Siebenerrhythmen lassen sich zuweilen durchaus in Biographien beobachten (Wiechert, Ch., 2020).
Durch alle Zeiten hindurch wurden in der bewussten menschlichen Entwicklung Wahrheit, Schönheit und Güte als die drei grossen verbindenden Ideale genannt. In einem Vortrag im Januar 1923 führte Steiner aus, dass die Tugend der Güte verwandt sei mit der Ebene des Seelischen, die Tugend der Schönheit mit der Schönheit des Lebendigen und die Tugend der Wahrheit mit dem physischen Leib (Steiner, R., 1923).
Wie ist das zu verstehen? Wenn ein Kind zur Welt kommt, lebt es zunächst ganz in der Nachahmung dessen, was es umgibt. Das Kind lebt in der unbewussten Voraussetzung, dass die Welt moralisch und daher prinzipiell gut sei. Das ist die grosse Leistung der kleinen Kinder, an die Moral der Welt zu glauben. Und daher können sie auch glauben, dass man die Welt nachahmen darf. «So ist das kleine Kind eine Offenbarung der vorgeburtlichen, der geistig-seelischen Welt. Das kleine Kind lebt also noch im Nachklang des Vorgeburtlichen, in der Vergangenheit» (Schad, A., 2007). Es ist ein Ideal der Waldorfpädagogik, dass man die Kinder in den ersten sieben Lebensjahren durch das eigene Vorbild darin unterstützt, die Welt nachzuahmen.
Zwischen Zahnwechsel und Geschlechtsreife, besonders intensiv zwischen dem 10. und 12. Lebensjahr, lebt das Kind mit der unbewussten Annahme: Die Welt ist schön. Es will die Welt schön finden, es will die Welt geniessen. Es lebt ganz in der Gegenwart. Daher sollten wir nicht versäumen, den Unterricht so zu gestalten, dass die Kinder den Unterricht geniessen können und nicht etwa so, dass er beim Kind Ekel und Antipathie hervorruft. Es besteht die Gefahr, dass man dieses Prinzip, den Unterricht zu einem Quell der Freude und des Geniessens zu machen, sehr leicht ins Sentimentale verzerren kann – hausbacken nannte Steiner das in seinem ersten Lehrerkurs. Dem kann man entgehen, indem der Lehrer, die Lehrerin eine intensive Beziehung zur Kunst pflegt und in diesem zweiten Jahrsiebt der Unterricht besonders künstlerisch wird. Bei eingehender Betrachtung des Künstlerischen im 2. Jahrsiebt, wird eine Differenzierung deutlich. Gerade am Anfang der Schulzeit, wenn die Kinder die Kulturtechniken lernen, darf eine gewisse Nüchternheit walten – nüchtern, nicht kalt. Dagegen erhoffte sich Steiner, dass später aller Unterricht, alles Didaktische, eingetaucht ist in Phantasiereichtum, Kreativität und Originalität.
In der Zeit der Präpubertät erwacht in den Kindern der eigene, individuelle Intellekt. Dieser wird durch eine phantasiereiche Pädagogik nicht selbstbezogen genährt, sondern wendet sich im Erstaunen der Welt zu. (siehe auch die letzten zwei Seiten des letzten Vortrags der Allgemeinen Menschenkunde, Steiner, R., 1919).
Mit der Geschlechtsreife beginnt sich das Verhältnis der Jugendlichen zur Welt zu verändern. Sie leben mit der unbewussten Annahme: Die Welt ist wahr. Jetzt sollte der Unterricht wissenschaftlichen Charakter bekommen. Wenn wir der Aussage Steiners folgen wollen, dass das Wahre eine besondere Beziehung zum physischen Leib hat, kann besonders durch den naturwissenschaftlichen Unterricht ein innerer Begriff von Wahrheit entstehen, «Ich kann die Welt denkend verstehen». Der erste Schritt dazu: Beobachten lernen und genau beschreiben, um die Dinge so wahrzunehmen wie sie sind und nicht so, wie es uns passt oder angenehm ist. Im dritten Jahrsiebt unterstützten wir die Jugendlichen in ihrem Bedürfnis, die Wahrheitsseite der Welt zu entdecken.
Durch die Flut der Sekundärliteratur zu den Unterrichtsgegenständen und den Lehrplanhinweisen ist die Sicht auf den eigentlichen Lehrplan hier und da verloren gegangen. Beschäftigt man sich noch einmal mit den frühen Lehrplanhinweisen, z.B. die Arbeit von Karl Stockmeyer zu den Lehrplananregungen Steiners, dann zeigt sich, dass der Lehrplan ab dem 6. Schuljahr eine deutliche Hinwendung zum Naturwissenschaftlichen hat.
4. Schuljahr: Tierkunde
5. Schuljahr: Tierkunde, Pflanzenkunde
6. Schuljahr: Pflanzenkunde, Geologie, Physik
7. Schuljahr: Chemie, Mechanik, Algebra, Himmelskunde, Menschenkunde
8. Schuljahr: Chemie, Physik, Geschichte der technischen Entwicklungen, Menschenkunde
Man kann diesen Lehrplan auffassen als einen Spiegel der Entwicklung des allgemein Menschlichen. Es wird deutlich, dass Welt und Mensch zusammengehören und dass dadurch ein natürliches ökologisches Bewusstsein geweckt wird. Es wird immer wichtiger, den Lehrplan so zu realisieren, dass Mensch und Welt zur Versöhnung kommen. Dass der Lehrplan die Schülerinnen und Schüler darin unterstützt, dass sie der Welt so gegenübertreten können, dass der Zusammenhang von Welt und Mensch sich in einem verantwortungsvollen Handeln ausdrücken kann. Verantwortungsvoll den andern Menschen gegenüber und verantwortungsvoll der Welt gegenüber. Wer mehr über diesen Zusammenhang erfahren möchte schaue in das Buch «Vom Leben unserer Erde» (Schad, A., 2023).
Mit der Oberstufe tritt dann das wissenschaftliche Erkennen in den Vordergrund. Goethe zählt die Eigenschaften auf, die man beim wissenschaftlichen Arbeiten braucht (Goethe, J. W., 1793):
- die Abgründe der Ahnung
- ein sicheres Anschauen der Gegenwart
- mathematische Tiefe
- physische Genauigkeit
- Höhe der Vernunft
- Schärfe des Verstandes
- bewegliche sehnsuchtsvolle Fantasie
- liebevolle Freude an allem Sinnlichen.
Alle Fächer der Oberstufe an einer Waldorfschule tragen dazu bei, diese wichtigen Eigenschaften zu erwerben und zu pflegen, auch die künstlerischen und handwerklichen Fächer tragen dazu bei. Das Erlernen und das aktive Umgehen mit diesen Eigenschaften geben den Jugendlichen wie ein seelisches Gerüst, dessen Pflege sie darin unterstützt, diese schwierigen Jahre zu bestehen. Die Suche nach dem Sinn des eigenen Lebens, die Suche nach der eigenen Aufgabe in der Welt werden intensiv in den Oberstufenjahren in allen Fächern begleitet und unterstützt. Da reicht es nicht, viele Praktika irgendwo ausserhalb der Schule zu absolvieren oder im Wald spazieren zu gehen.
Von oben nach unten
Der Mensch entwickelt sich, wie im Übrigen auch alle Tiere, leiblich von oben nach unten. Dadurch zeigen wir, dass wir Teil der allgemeinen Evolution der mit uns brüderlich und schwesterlich verwandten Tiere sind (Schad, A., 2019). Betrachten wir die Entwicklung des Kindes noch einmal genauer. Besonders während der Embryonalentwicklung, aber auch noch während der ersten Lebensjahre bis zum Zahnwechsel, eilt der Kopf in seiner Entwicklung voraus. Er ist überproportional gross im Vergleich zur Brust oder zum Stoffwechsel-Gliedmassenmenschen. Das Kind entwickelt sich vom Kopf aus. Es ist «insbesondere die Kopforganisation, die Nerven-Sinnes-Organisation, die da wirkt. (…) und vom Kopfe geht überhaupt das ganze Wachstum und alles aus.» (Steiner, R., 1924, S. 116).
Steiner weist in diesem Vortrag weiter darauf hin, dass das Kind zwischen dem 7. und dem 14. Lebensjahr ganz vom Atmungs-Rhythmus und dem Rhythmus des Blutkreislaufes beherrscht werde. Es sei «ganz Rhythmus». Was bedeutet das nun für die praktische Gestaltung des Unterrichtes an einer Waldorfschule?
Lassen wir Steiner noch einmal zu Wort kommen: «Nun müssen Sie sich in der Erziehung und im Unterricht an dasjenige System wenden, welches den Menschen beherrscht. Also zwischen dem Zahnwechsel und der Geschlechtsreife müssen sie sich mit Bildern an den Rhythmus wenden. Sie müssen alles, was Sie beschreiben, was Sie betreiben, so gestalten, dass der Kopf möglichst wenig dabei beteiligt ist, dass das Herz, der ganze Rhythmus, alles, was künstlerisch, rhythmisch ist, daran beteiligt ist. Was ist die Folge? Dass durch einen solchen Unterricht das Kind überhaupt nicht müde wird, weil man auf das rhythmische System und nicht auf den Kopf abstellt» (Steiner, R., 1924, S. 217). Man kann das, was in den folgenden Absätzen dieses Vortrags noch gesagt wird, so zusammenfassen, dass ein guter Unterricht gesundend und harmonisierend auf die Kinder wirkt.
Steiner war nicht mit allem einverstanden
Rudolf Steiner hat in den Jahren nach der Schulgründung bis zu seinem Tod die gelebte Wirklichkeit im Schulalltag der Waldorfschule Uhlandshöhe durch viele Besuche genau gekannt. Er war durchaus nicht mit allem einverstanden, was er wahrnahm. Daher hat er in vielen Vorträgen versucht «nachzusteuern», so z.B. in den Vorträgen, die er vom 8. bis 11. April 1924 im Gustav-Siegle-Haus in Stuttgart gehalten hat (Steiner, R., 1974). Erneut versuchte er hier dem jungen Lehrerkollegium «zuzurufen», auf was es seiner Meinung nach zentral ankommt. Und so weist er in diesen Vorträgen immer wieder darauf hin wie wichtig es sei, den Charakter der oben beschriebenen drei Lebensabschnitte zu berücksichtigen und aus der Kenntnis derselben heraus zu unterrichten.
Während der Weimarer Zeit und auch schon vor der Schulgründung 1919 gab es eine Reihe von reformpädagogischen Initiativen. Es gab aber fast keinen Austausch mit den anderen Richtungen. Die Wandervogelbewegung, bei der meine Grossmutter mit dabei war, propagierte, in der Natur zu wandern, also in Gemeinschaft Natur zu erleben. Steiner bezog das überhaupt nicht mit ein. «Nicht viel besser kamen bei Steiner die Landerziehungsheime weg, denen er zwar viel guten Willen attestierte, zugleich aber vorwarf, sie seien 'eine vollständige Verkennung dessen, was für die Kultur der Zukunft zu geschehen hat'» (Steiner, R., 1919/1932, 1992, S. 74, Frielingsdorf, V., 2019, S. 77).
Die Vertreter der Landerziehungsheime hatten Steiner dringend geraten, die Waldorfschule in die intakte Natur zu legen. Steiners Antwort darauf (sinngemäss): «Dort, wo die Not am grössten ist, in den Städten, da gehören die neuen Schulen hin. Und wer meint, man müsse jetzt als Städter aufs Land, um dort das wahre Leben zu finden, der irrt sich, denn er nimmt ja innerlich sein Städtertum mit. Dadurch ist nur die äussere Schale gewechselt, aber nichts gelöst.» (Schad, W., 1994).
Steiner greift interessanterweise diese Forderungen seiner Zeitgenossen nicht auf, sondern begründet die Waldorfpädagogik als einen eigenständigen Impuls. Hier geht es darum, die Kinder in ihrem Inkarnationsweg zu unterstützen durch den Unterrichtsstoff, vor allem aber durch die Unterrichtsmethode (Frielingsdorf, V., 2019, S. 69). Ein gelungener Unterricht wirkt, indem er die leibliche, seelische und geistige Entwicklung der Kinder berücksichtigt, gesundend (siehe auch Zdražil, T., 2000). Sich mit der Welt zu verbinden, geschieht zuerst vor allem durch eigenes Tun (Kindergarten und frühe Schulzeit), dann durch die vom Gefühl getragene Verbindung mit der Welt, die natürlich auch viel Eigentätigkeit voraussetzt, und in der Oberstufe werden alle die so erworbenen Erfahrungen und neuen Perspektiven bewusst denkend durchdrungen. Das ist bis heute ein völlig eigenständiges Konzept, das allerdings durch die moderne Entwicklungs- und Lernforschung immer deutlicher gestützt wird (vergl. Fuchs, Th., 2023).
Die zentrale Aufgabe von Erziehung ist es, die Kinder und Jugendlichen darin zu unterstützen, dass sich ihr Seelisch-Geistiges mit dem Leiblichen verbinden kann. Das ist ein komplizierter und sich über zwei Jahrzehnte hinziehender Vorgang. Als zentrale Gesichtspunkte der Waldorfpädagogik könnte man nennen:
Mit der Gründung der Waldorfschule war die Hoffnung verbunden, dass die Schulen aus der Obhut und der Gängelung des Staates entlassen werden, weil sie Innovationen und Impulse brauchen, die nur aus freiheitlichen Zusammenhängen, einem freien Geistesleben, kommen können. Die Heranwachsenden sollen nicht zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft erzogen werden, sondern sie sollen durch die Erziehung mitbekommen, was sie brauchen, um sich selbständig und in Freiheit für die Menschen und die Erde zu interessieren und, sofern sie sich dafür entscheiden, einzusetzen.
Und es kommt natürlich auf die durch Kenntnis der Waldorfpädagogik selbständig gewordene Kreativität und den Ideenreichtum der Kolleginnen und Kollegen in den vielen Ländern der Erde an, die gemeinsam an den Fragen und Aufgaben der Pädagogik arbeiten.
Albrecht Schad, Henning Kullak-Ublick und Christof Wiechert
Literaturverzeichnis:
Frielingsdorf, Volker (2019): Geschichte der Waldorfpädagogik. S. 77. Beltz Verlag.
Fuchs, Thomas (2023): World Teachers Conference 2023.
Goethe, J. W. (1793): Naturwissenschaftliche Schriften, Zitat aus der Abhandlung «Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt»
Leber, Stephan (2002): Kommentar zu Rudolf Steiners Vorträgen über Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik. Bd., S. 13. Verlag Freies Geistesleben.
Schad, Albrecht (2007): Zum Bildungswert der Naturwissenschaften. In: Erziehungskunst, April 2007, 376-383.
Schad, Albrecht (2012): Siebenjahres-Rhythmus. In: Rundbrief der Pädagogischen Sektion, Nr. 44, Johanna 2012.
Schad, Albrecht (2018): Gründungsimpulse und Zukunft der Waldorfschule. In: Rundbrief der Pädagogischen Sektion Nr. 63, Ostern 2018.
Schad, Albrecht (2019): Der Mensch und sein Leib – alles in Entwicklung. In: Medizinisch-pädagogische Konferenz. Heft 90, Nov. 2019, S. 43-71.
Schad, Albrecht (2023): Vom Leben unserer Erde. Verlag Freies Geistesleben.
Schad, Wolfgang (1992): Der Umschwung in der Reifezeit – Lebensprozesse und Seelengeburt. In: Glöckler, M. (Hrsg.): Das Schulkind – Gemeinsame Aufgaben von Arzt und Lehrer. S. 155-175. Verlag am Goetheanum.
Schad, Wolfgang (1994): Erziehung ist Kunst. S. 117. Verlag Freies Geistesleben.
Schad, Wolfgang (2012): Säugetiere und Mensch. Verlag Freies Geistesleben.
Steiner, Rudolf (1907): Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft. GA 34. S. 310.
Steiner, Rudolf (1912): Erfahrungen des Übersinnlichen. Die drei Wege der Seele zu Christus. Vortrag 16.4.1912, GA 143.
Steiner Rudolf (1917): Von Seelenrätseln. S. 150 ff. Rudolf Steiner Verlag.
Steiner Rudolf (1919/1932, 1992): Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik. Erster Teil, Rudolf Steiner Gesamtausgabe, GA 293, 9. Auflage. Rudolf Steiner Verlag: Dornach.
Steiner, Rudolf (1923): Lebendiges Naturerkennen. Intellektueller Sündenfall und spirituelle Sündenerhebung. GA 220. S. 42/43.
Steiner, Rudolf (1974): Die Methodik des Lehrens und die Lebensbedingungen des Erziehens. Rudolf Steiner Verlag.
Steiner Rudolf (1991): Das Schicksalsjahr 1923 in der Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft. GA 259, S. 173f. Rudolf Steiner Verlag.
Steiner, Rudolf (1924): Die Kunst des Erziehens. GA 311. Rudolf Steiner Verlag.
Wiechert, Christof (2020): Du sollst sein Rätsel lösen. Verlag am Goetheanum.
Zdražil, Tomáš (2000): Gesundheitsförderung und Waldorfpädagogik. Dissertation.