Ein Projekt an der thailändischen Tripat-Schule. Ein Beitrag von Tintin Ongpin-Montes.
Als ich an einem Oktobernachmittag den Gemeinschaftsraum des Tripat-Grundschulgebäudes betrat, wurde ich von einer Reihe ausgestellter Schülerarbeiten begrüsst: Handgebundene Bücher mit täglichen Tagebucheinträgen; Naturskizzen; geflochtene Körbe und Schalen mit Reissetzlingen; Gemälde von Bäumen, Flüssen und Bächen und Mönchen in safranfarbenen Gewändern; traditionelle thailändische Blumenkörbe; Larven der Soldatenfliege in durchsichtigen Behältern.
Das und vieles mehr war das Ergebnis, die die 8. Klasse während ihrer zweitägigen Präsentationen ihres Camp-Projekts gezeigt hatte. Als Betrachter fühlte ich mich sofort in das hineinversetzt, was die Schüler erlebt hatten.
Traditionen überdenken
Seit einem Jahrzehnt führt die Schule das traditionelle Format des «Class 8 Independent Project» durch, das viele Waldorfschulen auf der ganzen Welt jedes Jahr durchführen: Achtklässler wählen ein Thema, mit dem sie sich ein halbes bis manchmal auch ein ganzes Jahr lang selbständig beschäftigen, schreiben einen Forschungsbericht, erstellen eine künstlerische Arbeit und präsentieren der Schulgemeinschaft die Lektionen und Erkenntnisse, die sie gelernt haben. Ziel ist es, bei den Schülern Selbstständigkeit, akademische Strenge und die Liebe zum individuellen Lernen zu fördern und generell zu zeigen, dass sie für die nächste Stufe ihrer Ausbildung bereit sind.
Für das Schuljahr 2024-2025 hat die Lehrerin der Klasse 8 der Tripat-Schule, Nattiya Klampinij (Khru Anne), zusammen mit dem Lehrkörper der Mittelschule beschlossen, einen anderen Weg für die derzeitige Klasse 8 einzuschlagen. Anstelle von Einzelprojekten wird die Klasse einen Campingausflug in ein thailändisches Dorf unternehmen, dort lernen und ihre Erfahrungen anschliessend der Schulgemeinschaft präsentieren. Wie bei allen neuen, unerforschten Wegen kamen natürlich Fragen und Befürchtungen auf: Wird es funktionieren? Wird die Klasse auch ohne das übliche Projekt der Klasse 8 das lernen, was sie braucht?
Post-pandemische Generation
Khru Anne hat beobachtet, dass die Schüler im Laufe der Jahre zwar die Ziele der Projekte erreichen, dass aber das Engagement der früheren Achtklässler von grossem Engagement bis hin zu Anfällen von Langeweile und Stress variiert. «In der Waldorfpädagogik erkennen wir an, dass nicht jeder gleich ist. Jedes Kind ist ein Individuum.» Khru Anne erzählt weiter: «Ich musste reflektieren, was wirklich zu meiner Klasse passt... Als Individuen sehe ich die Stärken meiner Schüler und was sie noch entwickeln müssen. Ich weiss, dass ich sie anleiten, ihnen aber auch erlauben muss, an ihrer eigenen Bestimmung zu wachsen.»
Eines der Grundprinzipien der Waldorfpädagogik ist es, den Unterricht und die Aktivitäten so zu gestalten, dass sie den Entwicklungsbedürfnissen der Schüler angemessen und ganzheitlich gerecht werden. Der Mensch, der vor uns steht, ist der Kern unserer Aufgabe als Waldorfpädagogen. Rudolf Steiner unterstreicht dies, wenn er in einem seiner Vorträge für Lehrer sagt: «Wo ist das Buch in dem der Lehrer nachlesen kann, was Unterricht ist? Die Kinder selbst sind dieses Buch. Wir sollten aus keinem anderen Buch lehren lernen als aus dem, das offen vor uns liegt und aus den Kindern selbst besteht.»
Angesichts einer Klasse mit unterschiedlichen Lernfähigkeiten dachte Khru Anne intensiv darüber nach, was der Klasse am besten dienen würde. Dabei wurde sie daran erinnert, dass ihre Klasse zur Zeit der Pandemie aufgewachsen ist, wo sie die Isolation und die Schwierigkeiten des Online-Lernens erlebt haben. Khru Anne erkennt, dass es Lücken gibt, die gefüllt werden müssen, und Gelegenheiten zum gemeinsamen Lernen, die sie in dieser Zeit brauchen. Tatsächlich geht es vielen Kindern und Jugendlichen auf der ganzen Welt so, die während der Pandemie aufgewachsen sind. Das war der Aha-Moment für Khru Anne, als sie an ihre Klasse dachte, die kurz vor dem Übergang von der Grundschule zur Oberstufe steht: «Sie müssen zusammenbleiben. Gemeinsam lernen. Aber auch unabhängig sein, während sie mit anderen lernen.»
«Einheimisches Leben mit Weisheit»
Wie können wir in diesen hochgradig individualistischen Zeiten, ein intensiveres gemeinsames Lernen in der Klasse fördern und gleichzeitig eine Verbindung zur lokalen Gemeinschaft der Jugendlichen herstellen? Wie können sie sich selbst tiefer kennen lernen, mit ihren Wurzeln in Berührung kommen und diese mitnehmen, wenn sie die Schwelle von der Kindheit zum Jugendalter und zu ihrem eigenen, sich entwickelnden Selbst überschreiten? Wie kann man all dies erreichen und gleichzeitig die üblichen Ziele des traditionellen Klasse-8-Projekts erfüllen, so dass am Ende die Zeile «Ich schaue in die Welt», welche die Schüler jeden Morgen sagen, wirklich in ihnen nachhallt?
«Also habe ich im Internet nach Lokales Leben mit Weisheit gesucht», erinnert sich Khru Anne schmunzelnd. Nachdem sie an ihre Klasse und deren Bedürfnisse gedacht hatte, stellte sie bei der Suche nach einer geeigneten Gemeinde für das Camp folgende Bedingungen auf:
Das Dorf Ban Pha Biad in der Provinz Chaiyapum liegt im nordöstlichen Teil von Thailand. Die Lebensweise der Menschen hier ist mit dem Wasser – seinen Quellen, Bächen und dem Fluss – verbunden. Sie nutzen traditionelle Weisheiten und Technologien, um das Wasser zu nutzen und ihren Lebensunterhalt zu sichern.
«Hier haben die Schüler gelernt, dass das Wasser niemandem gehört. Es geht nicht um Besitz und auch nicht um Geld», erklärt Khru Anne. Aus diesem Grund ist das Leben der Menschen eng miteinander verbunden und sie fühlen sich für alle verantwortlich – von den Enkeln bis zu den Grosseltern, alle teilen und arbeiten in der Gemeinschaft zusammen. In einer globalisierten, konsumorientierten und digitalen Welt ist die Arbeit zum Wohle der gesamten Gemeinschaft eine wertvolle Lektion für die Klasse.
Gemeinsam lernen und individuell vertiefen
Zusammen mit drei anderen Lehrern begleitete Khru Anne die Klasse 8 neun Tage lang beim Eintauchen in das Dorfleben. Zu ihren Aktivitäten gehörten:
Natürlich war es für die Klasse wichtig, den genius loci oder den Geist des Ortes zu erfahren, der untrennbar mit der kulturellen Identität der Schüler verbunden ist. Khru Anne fügt hinzu: «Dieses Dorf ist wie unsere Schule. Jeder ist willkommen. Es herrscht Herzlichkeit. Jeder kennt jeden. Alle arbeiten zusammen, teilen und zeigen Verantwortung für das ganze Dorf.» Der Wert von Beziehungen und gegenseitiger Verbundenheit wurde in der Vision des Camps deutlich.
«Wir blieben acht Nächte und neun Tage in dem Dorf.» In den ersten sechs Tagen lernte die ganze Klasse gemeinsam dieselben Dinge. Sie haben zum Beispiel alle Körbe geflochten, Fischreusen gebaut und Pflanzen gepflanzt. Wir hatten auch einen gemeinsamen Lernort, wie den Tempel. Am siebten Abend bat ich sie dann, sich eine Aktivität auszusuchen, über die sie in den nächsten zwei Tagen mehr lernen wollten.
Jeden Tag folgten die Schüler dem gesundheitsfördernden Rhythmus der Dorfbewohner: Sie erledigten dieselben praktischen und sinnvollen Aufgaben – wenn einer seine Aufgaben nicht erfüllte, war der Rest der Gemeinschaft davon betroffen. Sie halfen bei der Zubereitung und Zubereitung der Mahlzeiten, lernten traditionelle Verfahren wie den Fischfang und die Betelnussernte kennen, führten Gespräche mit den Mönchen und Ältesten des Dorfes und erfuhren Geschichten über das Aufwachsen in der Gemeinschaft. „Das Leben im Dorf ist langsam, es wird nicht in Eile gelebt. Die meisten Schüler sind mit dem Leben in der Stadt vertraut, so dass dies für sie etwas ganz anderes ist.
In gewisser Weise waren die Dorfbewohner die Lehrer der Schüler, das tägliche Leben der Unterricht, und das Dorf selbst das Klassenzimmer. Bei den Präsentationen nach dem Camp staunten die meisten Schüler darüber, dass die Menschen in Ban Pha Biad offen und freundlich waren und Freude am Leben hatten.
Abgesehen von diesen Tagesaktivitäten kam die Klasse nach dem Abendessen mit den Lehrern zusammen. Als ihnen die Aufgabe gestellt wurde, eine Aktivität für sich selbst zu wählen, wurden sie ermutigt, das zu wählen, worauf sie sich wirklich konzentrieren wollten. Nach der Gruppenerfahrung hatten sie nun ihre eigene individuelle Erfahrung. Ich wollte, dass sie nicht nur lernen, sondern wirklich verstehen. Sie waren dafür verantwortlich, ihren eigenen «Ort der Weisheit» zu wählen, wie Khru Anne es beschrieb – eine Übung in Autonomie und Handlungsfähigkeit.
So wachsen sie auf
«Die Zeit ist so schnell, ich möchte mehr Tage bleiben.» Als Lehrer wissen wir, dass Schüler, die lernen, sich mit ihrem Kopf, ihrem Herzen und ihren Händen zu engagieren, dies auch selbst zeigen werden. Indem wir die Art und Weise, wie wir unterrichten, neu gestalten, und zwar auf eine Weise, die über die so genannten Waldorftraditionen im Lehrplan hinausgeht, sind wir in der Lage, die Schüler dort abzuholen, wo sie in ihrer Entwicklung wirklich stehen, und in der Realität und Zeit, in der sie leben.
In diesem neuen «Klasse-8-Projekt» lernten die Schüler, wie sie sein können, wie sie sozusagen erwachsen werden können.
Sie lernten nicht nur durch akademische Forschung, sondern durch etwas, das bereichernd, sinnvoll, real und zutiefst menschlich ist. Khru Anne fügt hinzu: «Ich glaube, das war eine wertvolle Erfahrung für sie. Auch ich habe eine Menge gelernt. Wir haben etwas über das Leben der Menschen und die Natur gelernt. Sie lernten, was es bedeutet und wie sinnvoll es ist, Geld zu haben. Das war für sie real, weil sie es selbst erlebt haben.»
Durch die gemeinsame Arbeit gewannen sie neues Wissen über ihre eigene Kultur, das praktische Leben und die Technik. Sie entdeckten Einsichten über sich selbst und andere, tauchten ein in eine Gemeinschaft, die in einer Kultur der Fürsorge und Freundlichkeit sowie der ethischen Verantwortung für die Menschen und die Umwelt lebt.
Dank der Bereitschaft der Schule und der Lehrkräfte, die Unterrichtspraktiken neu zu gestalten, wurde die Klasse auf ihrem Weg durch das letzte Jahr ihrer Grundschulzeit begleitet und so an die Schwelle zum Erwachsenwerden geführt.
Tintin Ongpin-Montes