Im Mittelpunkt stand das Kind: Vor über 100 Jahren begann die heute weltumspannende Waldorfschulbewegung mit einer Schule für Arbeiterkinder.
Emil Molt ist es zu verdanken, dass es heute Waldorfschulen gibt. Der Eigentümer der Zigarettenfabrik Waldorf-Astoria eröffnete am 7. September 1919 in Stuttgart die erste Waldorfschule – auf Basis der seit 1906 bekannten pädagogischen Erkenntnisse Rudolf Steiners.
Eine Schule für alle Kinder
Mit der «Einheitlichen Volks- und Höheren Schule» wollte Molt den Kindern der Arbeiter und Arbeiterinnen seiner Fabrik zu dem bis dahin verweigerten «allgemeinen Menschenrecht auf Bildung» verhelfen. Steiner wurde mit dem Aufbau des pädagogischen Konzeptes betraut. Demnach sollte alternativ zum staatlichen System eine ganz neue Schule entstehen, die jedes Kind aufnahm – unabhängig von sozialer Schicht, Nationalität, Konfession, Begabung oder Geschlecht. Steiners Konzept sah also nicht vor, eine exklusive Schule nur für die Kinder von Arbeiterinnen oder von Anthroposophen zu schaffen.
Im Mittelpunkt aller Bemühungen stand das Kind. Seine Talente und Entwicklungsfähigkeiten – kognitiv, künstlerisch und handwerklich – sollten gefördert werden.
Zu Steiners Konzept gehörte von Anfang etwa:
«Steiner entwarf das Konzept einer allgemein bildenden Schule, die spätere Schlosser oder Fabrikarbeiterinnen, Ärztinnen oder Rechtsanwälte auf der gleichen Schulbank von der 1. bis zur 12. Klasse ohne Differenzierung nach anonymen Leistungsstandards zusammenführte», heisst es im Artikel «Waldorfpädagogik: Verbreitung und Motive im 20. Jahrhundert».
Selbst wenn Stuttgart den Ausgangsort bildete, gab Steiner seine einführenden Kurse in Waldorf-Pädagogik im Laufe der Jahre in verschiedenen Städten in Europa wie etwa Basel, Bergen, Budapest, Den Haag, Hamburg, Lissabon, London, Oslo oder Wien. (Hier finden Sie unsere Video-Vortragsreihe zu Steiners Kursen in Waldorfpädagogik.) In den 1930er-Jahren gab es weltweit 17 Waldorfschulen.
Neben der Selbstständigkeit gegenüber dem staatlichen Unterrichtswesen und der Unabhängigkeit von nationalen Grenzen gehörte vor allem auch das anthroposophische Menschenverständnis zu den grundlegenden Merkmalen der Waldorf-Pädagogik.
Die Behörden des damaligen Deutschen Reiches standen der neuen Schule anfangs noch wohlwollend gegenüber. Doch ab 1933 wurde ein anderer Ton angeschlagen. Nach einem Besuch der Stuttgarter Schule kam der nationalsozialistische Inspekteur zum Schluss, dass die Waldorfschule einen Fremdkörper im NS-Erziehungswesen bilde. Anfang 1934 verhängten die Behörden rigide Aufnahmesperren. Von 1936 bis 1941 kam es dann zu Zwangs- und Selbstschliessungen der Waldorfschulen. Zahlreiche Waldorflehrer emigrierten in der Folge in die Schweiz, nach England oder in die USA.
Trotz aller Widerstände: Heute gibt es auf jedem Kontinent Waldorf- und Rudolf Steiner Schulen (beide Bezeichnungen sind weltweit gebräuchlich). Mehr als 1200 Waldorf- und Rudolf Steiner Schulen arbeiten in rund 80 Ländern. Über 1900 Waldorfkindergärten sind in rund 70 Ländern auf der Grundlage von Steiners Lehre tätig. (Hier finden Sie die Waldorf World List, die Liste mit den weltweit anerkannten Waldorf- und Rudolf Steiner Schulen.)
Ohne Nachhilfe-Job keine Waldorfschule?
Aus Rudolf Steiners Autobiografie geht deutlich hervor, wie wichtig ihm seine eigenen Schul- und Lernerlebnisse waren.
Steiners erster Besuch der Dorfschule im niederösterreichischen Pottschach fand durch einen Streit zwischen seinem Vater und dem Lehrer ein schnelles Ende. Den Anfangsunterricht bekam das Kind dann von seinem Vater – er war Bahnbeamter – auf dem Bahnhof. Und obwohl der Vater mit den Lernergebnissen seines Sohnes nicht besonders zufrieden war, gelang es ihm, diesen recht früh zum Lesen anzuregen.
Mit sieben Jahren ging Steiner, der am 27. Februar 1861 in Kraljevec an der ungarisch-kroatischen Grenze geboren wurde, dann im niederösterreichischen Neudörfl regelmässig zur Schule. Dorthin war der Vater, der wie auch Steiners Mutter aus dieser Region stammte, versetzt worden.
In seiner Autobiografie schrieb Steiner später: «Auch was in der Schule vorgebracht wurde und was ich selbst da zu tun hatte, ging ohne ein lebhafteres Interesse an meiner Seele zunächst vorüber. Ich hatte in den beiden ersten Klassen viel Mühe, mitzukommen. Erst im zweiten Halbjahr der zweiten ging es besser. Da war ich erst ein 'guter Schüler' geworden. Ich hatte ein mich stark beherrschendes Bedürfnis. Ich sehnte mich nach Menschen, denen ich wie Vorbildern menschlich nachleben konnte. Solche fanden sich unter den Lehrern der beiden ersten Klassen nicht.»
Als er vierzehn Jahre alt war, musste Steiner aus finanziellen Gründen damit beginnen, Privatunterricht zu geben. «Fünfzehn Jahre lang (...) hielt mich das Schicksal in dieser Betätigung fest.» Er verdanke diesem Nachhilfeunterricht sehr viel, so Steiner. «Indem ich den aufgenommenen Unterrichtsstoff an Andere weiterzugeben hatte, erwachte ich gewissermassen für ihn.» Für die Umbildung dieses halbwach Aufgenommenen hätte die Tatsache gesorgt, dass Steiner seine Kenntnisse in den Nachhilfestunden beleben musste. Andererseits sei er durch den Nachhilfeunterricht genötigt gewesen, sich in einem frühen Lebensalter mit praktischer Seelenkunde zu beschäftigen. «Ich lernte die Schwierigkeiten der menschlichen Seelenentwicklung an meinen Schülern kennen.»
(Quellen: Uwe Werner und Bodo von Plato: «Waldorfpädagogik: Verbreitung und Motive im 20. Jahrhundert» in «Waldorf Pädagogik weltweit», 2001; Tomáš Zdražil: «Freie Waldorfschule Stuttgart» 1919 - 1925, 2019; FWS Uhlandshöhe; Rudolf Steiners Autobiografie: GA 28)