Die Nordische Mythologie kann die Identität von Kindern aus nord- und mitteleuropäischen Kulturen vertiefen. Doch erfüllen diese Erzählungen im Unterricht auch Kinder aus anderen Kulturkreisen?
Mit dem Blick wir auf die weltweite Ausbreitung der Waldorfpädagogik erscheint mir der Beitrag «Erziehung ist immer politisch» von Neil Boland sehr wichtig und aufschlussreich. Ich möchte das kurz mit meinen Erfahrungen ergänzen.
Bei meinen Besuchen in Waldorfschulen in Indien, China und in verschiedenen Ländern Mittel- und Südamerikas erlebte ich in den vierten Klassen regelmässig eine lange Epoche zur Nordischen Mythologie. Auf die Frage nach dem Warum und Wozu bekam ich die Antworten: Weil es so im Lehrplan steht! Oder: Weil das der Entwicklung der Kinder entspricht! Nordische Mythologie kann in nord- und mitteleuropäischen Kulturen als Teil der den Hauptunterricht begleitenden erzählten Legenden und Mythen das Weltbild der Schüler einerseits bereichern und eine Identität mit der eigenen Kultur vertiefen.1 Welche Identität stiftende Funktion sollte die Nordische Mythologie jedoch Kindern in aussereuropäischen Kulturen bieten?
Pädagogen und Pädagoginnen in Indien, Mexiko oder Peru sollten für das vierte Schuljahr nach Mythen in ihrer nahe liegenden Kultur suchen, besonders wenn sie lokale Geschichte und Geografie vorbereiten. Das allerdings bedeutet eigene Kreativität!
Für das Formenzeichnen konnte ich auf dem spanisch sprechenden Kontinent zusammen mit Lehrern aus Chile bis Mexiko, abweichend von den dort immer noch bevorzugten keltischen und langobardischen Flechtmustern, aus dem Reichtum des jeweils präkolumbianischen Designs Motive für diesen Unterricht im vierten Schuljahr entwickeln und in einem Buch in spanischer Sprache dokumentieren.2
Die von Neil Boland angesprochenen Kulturepochen mit der Perspektive der Weiterentwickelung in Europa für den Geschichtsunterricht der 5. Klasse sind ein weiteres Thema einer europazentrieten Weltsicht. Ich habe grosse Zweifel das in Analogie zur Bewusstseinsentwicklung der Kinder zu verstehen.
Die von Rudolf Steiner als Welt- und Bewusstseinsentwicklung charakterisierte Urindische, Urpersische, Ägyptisch-Chaldäische, Griechisch-Lateinische und Germanisch-Angelsächsische Kultur geografisch auf Indien, Persien, Babylonien, Ägypten, Griechenland, Italien und Mitteleuropa zu lokalisieren, ist schon fraglich, wenn das aus dem Blickwinkel anderer Weltregionen betrachtet werden soll. Wie könnte das, anders lokalisiert, aus der Perspektive Chinas, Indiens, der Inka- oder Mayakulturen entwickelt werden? Vom Sesshaftwerden über den Ackerbau, die Fluss-und Stadtkulturen, Erfindung der Schrift etc. Dort allerdings haben wir keine kontinuierliche Entwicklung. Denn die war durch die europäischen kolonialen und imperialen Bestrebungen radikal abgebrochen, besonders auf dem amerikanischen Kontinent.
Geschichts-«Erzählungen» für die Schüler und Schülerinnen in der Klassenlehrerzeit müssten neu gesucht und geschaffen werden. Dafür aber brauchen die Lehrenden Hilfe von Historikern!
Thomas Wildgruber
Referenzen
1: Rudolf Steiner: Mythen und Sagen. Okkulte Zeichen und Symbole, GA 101, 13.9.1907, Dornach 1987
«Machen Sie sich einmal klar, wie der einzelne (mittelalterliche) Handwerker seine Freude an jedem Stück hatte, wie er seine Seele da hineinarbeitete. In jedem Ding war ein Stück seiner Seele. Und wo in der äusseren Form Seele ist, da strömen auch die Seelenkräfte über auf den, der es sieht und ansieht. [...] Was der Mensch sieht, was hineingegossen wird in seine Seele aus seiner Umgebung, das wird in ihm eine Kraft. Danach formt er sich selbst …»
2: Thomas Wildgruber, Diseño de Formas de 1º a 4º curso escolar, Manual para maestros y padres, Editorial Rudolf Steiner, Madrid 2021. S. auch Formenzeichnen – eine neue Linienkunst weltweit, Waldorf Resources 2019