«Heimat finden im Unterwegssein»

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Philipp Reubkes Eindrücke von der diesjährigen World Teachers' Conference mit Teilnehmenden aus der ganzen Welt

Im April haben knapp tausend Lehrende und Erziehende aus über 60 Ländern ihre Heimat verlassen, um sich an der World Teachers' Conference 2023 am Goetheanum mit anderen Tagungsteilnehmenden auszutauschen. Philipp Reubke, Leiter der Pädagogischen Sektion, schildert in «Das Goetheanum» seine Eindrücke der lebhaften Tagung. Lesen Sie hier eine gekürzte Version.


Montag, 10. April, 20h30: 995 Pädagoginnen und Pädagogen aus 61 Ländern haben gerade den Vortrag des katalanischen Philosophen Josep Maria Esquirol gehört. Da betritt ein Mann mit Lederjacke und Fernrohr die Bühne gefolgt von extravaganten Damen und Herren und einem Harlekin. Sie sprechen mehrere Tagungssprachen nach- und durcheinander, schliesslich versteht man doch: Sie möchten weg von hier, nichts wie weg von diesem problematischen, verschmutzten, langweiligen Planeten Erde.

Glücklicherweise kann der Mann mit Lederjacke und Fernrohr Raumschiffe steuern und landet mit seiner Truppe bald auf dem Mars, das heisst, in einer anderen Ecke des Saales. Doch auch dieser Planet wird schnell unwirtlich und uninteressant. Die Flucht geht weiter bis nach einem letzten Flug begleitet von einem Rachmaninov-Klaviersatz die Einsicht auftritt: Was zum Bleiben einlädt, sind nicht die mehr oder minder angenehmen Verhältnisse, sondern die Liebe….

Esquirol hatte auf seine Weise Ähnliches gesagt wie die jungen Schauspieler und Eurythmisten der Goetheanum-Bühne: Die Einladung, Verantwortung in der Gesellschaft zu übernehmen, erfolgt durch Pädagoginnen und Pädagogen, die sich Zeit nehmen, die einen besonderen Ort – die Schule – gestalten und dort eine herzliche Beziehung zu Kindern und Jugendlichen aufbauen.

Am Dienstag vibrieren wieder viele Sprachen durch den grossen Saal. Englisch und Holländisch als kräftige Melodie, mit spanischer kräftiger Begleitung und einem Chor nordischer Sprachen, mit italienischen, französischen, ungarischen, chinesischen und vielen anderen Harmonien, und einer zarten Doppelstimme aus Russisch und Ukrainisch. Deutsch? Ein diskreter Basso continuo. Bevor die Vorträge beginnen, breitet sich Stille aus. Eine junge Frau aus Holland steht auf der Bühne und schweigt. Dann beginnt sie zu singen und bringt den grossen Saal zum Mitsingen, ohne Worte.

Im eigenen Leib zuhause sein

Thomas Fuchs, Professor für Philosophische Grundlagen der Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Heidelberg, drückt das Thema der Tagung mit einem Begriffspaar aus, das so markant ist, dass es in der Folge immer wieder auf der Tagung zu hören ist, mehr noch in der englischen Übersetzung.  

Er erklärt uns den Unterschied zwischen Leib sein («the body we are») und Körper haben («the body we have»). Das kleine Kind erlebt sich unbewusst als lebendige leiblich-seelische Einheit, es ist ganz Leib und ist da in leibhaftiger Gegenwart. Der pubertierende Jugendliche hingegen fühlt sich von seinem Körper verschieden, der ihn stört, den er versteckt, den er stylt. Der Körper wird zum physischen Gegenstand, der einem fremd werden kann, den man als Objekt beliebig verändert oder manipuliert. Der Entfremdung vom Körper, der zum manipulierbaren Objekt, zur Ware wird, könne man durch Erziehung und Selbsterziehung entgegenwirken. Spontane leibliche Existenzweisen und ein «Sich im Leib auf der Erde zu Hause fühlen» müssten heute bewusst angestrebt werden.

Aber wie? Wilfried Sommer, Dozent am Lehrerseminar für Waldorfpädagogik in Kassel macht einen Vorschlag für den naturwissenschaftlichen Unterricht der Oberstufe. Der Vortrag ist detailliert, präzise, konkret. Es geht darum, wie bei den Versuchen, den Versuchsbeschreibungen und bei der Entwicklung der naturwissenschaftlichen Begrifflichkeit, an das leibliche Erleben in der frühen Kindheit und an die Sinneserfahrungen der Jugendlichen angeschlossen werden kann.

Auch am nächsten Tag werden weitere Anregungen für die tägliche Erziehungspraxis gegeben. Beide Rednerinnen führen aus, wie die allgemein formulierte Idee von Thomas Fuchs («Das Leib-Sein bleibt geprägt von Eigenzeiten, von rhythmischen und periodisch wiederkehrenden Prozessen») im Kindergarten und in der Schule umgesetzt werden kann. Kathy MacFarlane, Waldorferzieherin aus Neuseeland, spricht von einem «Angriff auf das rhythmische System», der durch die digitalen Medien und durch die Massnahmen zur Pandemie-Bekämpfung stattgefunden habe. Durch Verlangsamung und Vereinfachung der Abläufe in den Kindergärten, durch die Zeit, die man sich für sorgfältige Pflege der Umgebung nehme, könne man den Kindern helfen, atmen zu lernen und ihre Lebenskräfte zu stärken. 

Laufen fördert Leben

Michal Ben Shalom, Klassenlehrerin und Dozentin aus Israel formuliert ein philosophisch – poetisch pädagogisches Plädoyer für das Gehen: Wie viele Kinder und Jugendliche kommen «vom Bett direkt in die Schule» mit minimaler leiblicher Bewegung? In dieser Situation müssten Eltern und Lehrer Fantasie aufbringen, um Lösungen zu finden, wie jeden Tag gelaufen und gewandert werden kann. «Es fördert Rhythmus, vertieft die Atmung, unterstützt den Kreislauf, ermöglicht Harmonisierung des rhythmischen Systems, des mittleren Menschen, fördert Leben.»

Der Geschichtsunterricht hat die Aufgabe, die Kinder und Jugendlichen bei Ihrem Ankommen im hier und jetzt zu begleiten, aus der Vergangenheit das Gewordene zu beleuchten. Aber nicht nur. Auch aus der Zukunft muss es beleuchtet werden, unterstreicht Michael Zech vom Lehrerseminar in Kassel. Und dann nicht nur Narrative geben, sondern den Jugendlichen ermöglichen, ihre Geschichte zu erzählen. Und dann die wichtigste Aufgabe: Nicht nur die Verbindung zur eigenen Kultur bewusst machen, sondern: «Lernen in der eigenen Kultur ein Fremder zu werden. Heimat finden im Unterwegssein.»

Ya Chih Chan, eine Eurythmistin und ehemalige Klassenlehrerin aus Taiwan, beeindruckte die Teilnehmer durch ihren Vortragsstil, der so ganz anders war, als das was man bisher gehört hatte: Sie erzählte aus ihrem Leben und zeigte und interpretierte das chinesische Schriftzeichen für «Zen» – ein Pictogramm, eine Aufforderung, ein Menschheitsideal, das Göttliche im Weltall mit dem Individuellen zu verbinden. Im individuellen Bewusstsein, so die Zen-Philosophie, seien im Laufe der Kulturentwicklung eine Art von Leb- und Lieblosigkeit aufgetreten, die auch den menschlichen Leib korrumpiert habe.

In der christlichen Tradition wird gesagt, dass durch den Tod und die Auferstehung des Sonnengottes «eine therapeutische Quelle» oder ein Keim für Heilungskräfte in den menschlichen Leib gelegt worden seien. Diese können aber nur durch die bewusste Aktivität der Ich-Kräfte wirksam gemacht werden oder wie man in der Zen-Philosophie sagen würde: durch das Bemühen, gleichzeitig das Aufwachen und Verstärken des Individuellen und das sich Vergessen im kosmisch Geistigen zu üben. Nach dem Vortrag sagte ein italienischer Klassenlehrer: «Wenn jemand anders und zu Beginn der Tagung so etwas gesagt hätte, wären wir nicht bereit gewesen, uns für solche Perspektiven zu öffnen.» (...)

Philipp Reubke

Foto: GoetheanumFoto: Goetheanum