Lernen für eine gemeinsame Welt

|   Aktuelles
Constanza Kaliks schaut zurück auf die World Teachers' Conference 2023.

Warum vertraut das Kind seiner Lehrerin? Weil sich diese sowohl dem Kind wie auch der Welt zuwendet – beides erkennend und bejahend. Diese doppelte Zuwendung war für Rudolf Steiner die Grundlage der Pädagogik – eine Bedingung, auf der das Lernen der Welt und das Teilhaben an der Welt überhaupt entstehen kann. Lesen Sie hier eine gekürzte Fassung aus Constanza Kaliks Beitrag in «Das Goetheanum».


Mehr Mensch, mehr Welt: Das war ein leitendes Motiv im Eröffnungsvortrag von Josep Maria Esquirol an der World Teachers’ Conference 2023 am Goetheanum. Darin klingt an, was während der ganzen Zusammenkunft von Erzieherinnen und Erziehern, Lehrerinnen wie Lehrern lebte:

Das Kind steht im Zentrum und die Welt steht im Zentrum – und beides lebt gleichzeitig im Bewusstsein des Pädagogen. Es sind zwei Zentren, die zusammen die beiden Brennpunkte einer Ellipse der Aufmerksamkeit bilden. Die pädagogische Aufmerksamkeit gleicht einer Bewegung auf dieser Ellipse: einmal näher am Kind, dann näher an Natur-Phänomenen, an einer Geschichte, näher an einer mathematischen Gleichung, an einer Entdeckung, näher am Reichtum der Welterscheinungen.

Lehrer und Lehrerinnen können ein Sensorium für eine solche Nähe und für eine wahrnehmende, aufmerksame Entfernung entwickeln. Es ist ein ahnendes, tastendes Sehen, das zum Kind gewendet ist, auf den werdenden Menschen, auf den neuen Weltenbürger, der ein Mitbürger einer gemeinsamen Welt sein möchte.

Erkennen, Teilhaben und Werden 

So ist Lernen ein Lernen für eine gemeinsame Welt. Wir wissen uns gemeinsam, aufeinander angewiesen, wechselseitig, einzigartig – mit allen anderen, die auch einmalig sind. Das Wissen um die gemeinsame Welt und die Verantwortung für diese bilden den fruchtbaren Boden für die Pädagogik sowie für die Gesellschaft. Die Erziehungsfragen sind soziale (gesellschaftliche) Fragen.

Diese immer sichtbarer werdende Wirklichkeit formulierte Rudolf Steiner schon im 20. Jahrhundert. Über Weihnachten und Neujahr 1922/23 hielt er den Kurs Der Entstehungsmoment der Naturwissenschaft in der Weltgeschichte und ihre seitherige Entwicklung. Dieser Kurs war zwar nicht speziell an Lehrpersonen gerichtet. Doch weist Steiner darin auf eine für Lehrinnen und Lehrer zentrale Wende hin: das Jahrhundert, in dem die moderne Naturwissenschaft geboren wird.

Es ist das Jahrhundert, das zwischen Nikolaus Cusanus’ Docta ignorantia 1440 und der Publikation von De revolutionibus orbium coelestium von Nikolaus Kopernikus 1543 liegt. Die Entwicklungen, die diesen Geburtsmomenten folgten, brachten den Menschen «Entsagungen und Befruchtungen des Seelenlebens».1 Vieles, ja das meiste, was wir wissen, entstammt einer Perspektive, die in der Moderne geboren ist: Das Bild des Menschen und des Universums, das der Naturwissenschaft zugrunde liegt.

Ab dem 15. Jahrhundert entsteht zunehmend das Bewusstsein, dass die Erde als Gegenstand dem Menschen gehört. Die Welt wird in der Neuzeit vermessen, die Zeit geordnet. Die Entwicklungen der Naturwissenschaft zeigen den Menschen in seiner Macht und seinem Drang nach Besitz bis hin zu Bemächtigung und darüber hinaus zur systematischen Zerstörung. 400 Jahre später wird die Gefährdung, die aus dieser Macht für Mensch und Welt entsteht, deutlich und existentiell.

Im 20. Jahrhundert entsteht dann eine andere Form des Verhältnisses von Welt und Mensch. Es ist eine Menschlichkeit ohne Bemächtigung, ein wachsendes Bewusstsein für die Notwendigkeit, eine Verantwortung für die Lebensbedingungen der Erde und des Menschen. Der Philosoph Hans Jonas schreibt, dass Angewiesenheit nicht Ausdruck von Entbehrung oder Ohnmacht, sondern von Entwicklung, von Komplexität und Differenzierung sei.2 Es gehe um Wachheit und Aufmerksamkeit für das Wissen der gefährdeten Menschlichkeit des Menschen, die als veranlagte Gabe, geschützt und gepflegt werden müsse.

Für diesen neuen Beginn entwickelt Rudolf Steiner die anthroposophische Geisteswissenschaft. «Mehr Mensch, mehr Welt» bedeutet in dieser Wende des 20. Jahrhunderts etwas anderes als «mehr Welt» im Entstehungsmoment der Naturwissenschaft. Es ist eine Erkenntnis ohne Bemächtigung, die jedoch nicht ohnmächtig gegenüber dem Weltgeschehen steht. Erkenntnis wird zur aktiven Teilhabe im Werden der Welt, im Werden des Menschen. Für diese Erkenntnissuche, ihre Entwicklung, ihre Methoden, ihre Wirksamkeit gründet Rudolf Steiner die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft.

Ohne den Anderen geht es nicht

Vordringlich ist dabei eine Menschenkunde, ein Bild des Menschen als Grundlage für die Pädagogik: nicht als normatives Mass, sondern als Orientierung für ein «schauendes Erkennen», für das Wahrnehmen-lernen der Einmaligkeit des realen Kindes, des realen Jugendlichen. Entscheidend ist die Perspektive eines Ich, für das der Andere und die Welt konstitutive, unentbehrliche Erfahrungen sind. «Das Ich ist wirklich durch seine Teilnahme an der Wirklichkeit. Es wird umso wirklicher, je vollkommener die Teilnahme ist.»3

Lernen braucht den Anderen. Für das Kind, für den heranwachsenden jungen Menschen ist Lernen ein Vollzug in der unmittelbaren Beziehung zu einem anderen Menschen. Es vollzieht sich angesichts des Anderen. Es braucht jemanden, der sieht, was ich sehe, dem ich zeigen kann, was ich wahrnehme, der mir zeigt, was zu sehen, was zu kennen, was zu erkennen ist. Die Schönheit der Welt erschliesst sich in der Mit-Teilung.

Lernen beruht auf Beziehung. Diese verändert sich, entwickelt sich, ist in Bewegung. Pädagoginnen und Pädagogen erhalten von der Gesellschaft den Auftrag, Verantwortung für die Möglichkeiten der Beziehung zu übernehmen. Sie haben das Verhältnis zu vermitteln, es zu ermöglichen und es zu fördern. Dafür müssen sie selbst «mehr Welt» werden, mehr Mensch. (…)

Constanza Kaliks

 

Literatur


1: Vgl. Steiner, Rudolf GA 326. Der Entstehungsmoment der Naturwissenschaft in der Weltgeschichte und ihre seitherige Entwicklung. 4. Aufl. 2017. Dornach: Rudolf Steiner Verlag, S. 21f.

2: Vgl. Hans Jonas. Lehrbriefe an Lore Jonas. In: Hans Jonas. Erinnerungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2005, S. 359.

3: Martin Buber. Ich und Du. In: Das dialogische Prinzip. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2014, S. 66.

Die Ellipse der Aufmerksamkeit: Constanza Kaliks an der World Teachers' Conference 2023. Foto: GoetheanumDie Ellipse der Aufmerksamkeit: Constanza Kaliks an der World Teachers' Conference 2023. Foto: Goetheanum