Es ist unsere Aufgabe als Gesellschaft, Kinder zu empfangen und ihnen eine autonome Teilhabe an der gemeinsamen Welt zu ermöglichen. Dies, weil wir Menschen sind und das Geborensein uns als ein Geschenk der Natur gegeben ist. Ein Beitrag von Constanza Kaliks zur Vortragsreihe «Freiheit und Verantwortung».
Das Leben-Können erfordert eine Ermöglichung durch andere Menschen. Diese Verpflichtung ist deutlich und kann nicht in Frage gestellt werden. Zu befragen ist, welche Bedingungen vorhanden sein müssen, um dieses Hineinwachsen in die Welt zu einem Erwerb von Freiheit und Verantwortung werden zu lassen.
Lernen, vor allem in der Kindheit und in der Jugend, ereignet sich unter Menschen: Da vollzieht es sich und findet seine Voraussetzungen. Pädagogik realisiert sich im Raum der Beziehungen, der Angewiesenheit, ein Raum, der sowohl offen wie auch geschützt sein muss. Die direkte Beziehung der Lehrenden zu den Lernenden ist essentiell. Es erstaunt nicht, dass selbst in Ländern wie den Niederlanden, die digital sehr gut ausgestattet sind, die Kinder im Lockdown in der Corona-Zeit «wenig bis nichts gelernt» haben. Das zeigt eine Studie.[1]
Welche sind die Entwicklungsbedingungen, die es ermöglichen, dass der Mensch dazu in der Lage ist – bzw. in die Lage kommt -, sich in Freiheit für die Verantwortung für eine gemeinsame Welt entscheiden zu können? Welches sind die Entwicklungsvoraussetzungen seines Selbst- und Weltverhältnisses, die ihn zur Verantwortungsübernahme befähigen?
Das Kind und die Welt
Offensichtlich wandeln sich diese Bedingungen von der frühsten Kindheit bis zum jungen Erwachsenen. Die menschenkundlichen Perspektiven, die Rudolf Steiner entfaltet, sind Blickrichtungen, «Augeneinstellungen»[2], um die Wahrnehmung des Kindes zu fördern und zu vertiefen.
Der Lehrer oder die Lehrerin befindet sich in einer ständigen Wechselbeziehung, in der sich zwei Perspektiven durchgehend verweben: Eine Annäherung an die Wirklichkeit des Kindes, die immer tastend verlaufen und bleiben muss, und der grosse, weite Horizont der Verbundenheit mit der Welt, den es zu vermitteln gilt. Das Kind geht auf diese Welt zu, es will in diese Welt, bejaht sie suchend. Es möchte dieser Welt begegnen, an und aus ihr lernen und werden. 1922 sagt Rudolf Steiner in seinem Oxforder Kurs («Spiritual Values in Education and Social Life»):
Dasjenige, was das Kind durch seine Wesenheit von uns verlangt, das ist, dass es an uns glauben kann, dass es das instinktive Gefühl haben kann: Da steht einer neben mir, der sagt mir etwas. Er kann es sagen, er steht mit der ganzen Welt so in Verbindung, dass er es sagen kann. [...][3]
In der frühen Kindheit erfährt das Kind das Verhältnis zur Welt hoffentlich in einer Weise und Umgebung, von der es sich bestätigt, erwartet und bejaht erlebt. Der erwachsene Mensch, der schon in der Welt ist, versichert dem Kind sein Dasein in der Welt so, dass es erleben kann: Es gibt Güte, und sie ist erlebbar in der Umsorgung, in der warmen, beschützenden, unterstützenden Nähe.
Sich und die Welt erkennen
Das heranwachsende Kind benötigt sodann immer mehr das Erlebnis des Gesehen-Werdens. Der Andere, der mich sieht, versichert mich meines Hier-Seins. Zugleich eröffnet der erwachsene Mensch dem Kind in der Mitte der Kindheit mehr und mehr den Blick auf die Vielfalt, auf den Reichtum der Wirklichkeit, was in die Erfahrung münden kann: es gibt auch Schönheit in der Welt, im Menschen, in dem, was der Mensch hervorbringt. Sehen lernen und selbst gesehen zu werden sind zusammenhängende, sich wechselseitig ermöglichende und ineinander verwebende Erfahrungen.
Jugendliche entwickeln schliesslich im Verhältnis zur Welt das Verhältnis zu sich. Anfänglich, und doch entscheidend, stellt sich die Frage nach dem eigenen Weg, nach der eigenen Zukunft. Der junge Mensch erhofft, dass andere in ihm etwas von dem erkennen, was vielleicht nur im ersten Ansatz sichtbar ist. Hier sind sich-erkannt-wissen und die Welt erkennen zu lernen untrennbare Erfahrungen. Die Welt ist erkennbar, sie kann erkennend durchdrungen werden in ihrer ihr innewohnenden Intelligibilität – die Erfahrung von Wahrheit steht dem erkennenden Menschen offen.
Bei jedem Kind, jedem jungen Menschen muss sich die Gesellschaft die Frage stellen, inwiefern sie dem Heranwachsenden dazu verhilft, die genannte, sich verwandelnde Verbundenheit mit der Welt erfahren zu können. Inwiefern das Kind und der Jugendliche lernen kann, die Welt als wertvoll, kostbar und liebenswert zu erfahren, trotz all ihrer Unzulänglichkeit und all ihren Herausforderungen – eine Welt, in der das Kind und der junge Mensch bleibende Beziehungen erleben dürfen, in einer Umgebung, der zu vertrauen ist und die ihnen Vertrauen schenkt.[4]
Du und Ich
Rudolf Steiners Bild des Menschen als eines werdenden Wesens gründet in einer Auffassung des Ich als einer Instanz der Relation, des Verhältnisses. Das Selbst des Menschen ist konstitutiv ein Wesen der Beziehung, es ist keine vorgeformte Substanz, es ist ein Werdendes, ein am Verhältnis und in der Gegenseitigkeit Entstehendes.
Nicht wenige Denker, Pädagogen, Soziologen und Künstler des 20. Jahrhunderts beschreiben das Ich als Vollzug von Gegenseitigkeit. Franz Rosenzweig betont 1917: «[...] Mein Ich entsteht im Du. [...] Mit dem ersten Du ist die Schöpfung des Menschen fertig.»[5] Josep Maria Esquirol beschreibt in einem 2021 erschienen Buch, dass der eigene Name dem Menschen von der Welt her, vom Anderen her, gegeben wird. Das für das ganze Leben erklingende Wort, mit dem man angesprochen, gemeint, gerufen wird – der in den ersten Lebensmomenten erhaltene Name –, ist schon Ausdruck des Faktums der menschlichen Angewiesenheit:
[...] Anfang zu sein geht Hand in Hand mit der Tatsache, dass das erste Wort vom anderen kommt. [...] Ich empfange den Namen, das heisst, ich höre meinen Namen, und dann gebe ich ihn mir selbst: «Ich». Das ist die Reihenfolge: Ich empfange und ich werde gerufen und ich antworte.
Weil ich empfangen und gerufen werde, spreche ich; weil ich mich gerufen und angeschaut fühle (erkannt und beachtet), antworte ich. Nun, Zuhören und Sprechen ist nur möglich im Vertrauen. Das empfangene Wort macht uns zu Zuhörern, zu Wegbegleitern. Nur durch die Begegnung und das Wort, auf das man hört, kann der Mensch kreativ werden. Nur durch die Begegnung und das gehörte Wort entsteht ein Sinn.
Das Empfangen des Namens ist der Beginn der Berufung. Sie macht mich verantwortlich, bevor ich überhaupt fähig bin.[6]
Eine Pädagogik, die sich am Kind und an der Welt orientiert, erfordert ständige Wachheit sowohl für das Kind – für dieses eine, reale, einen Namen tragende Kind –, wie für die plurale, komplexe Welt. In ihr vollzieht sich das Zusammenkommen des Einzelnen mit den Anderen. In einem verantwortungsvollen und schöpferischen Prozess, der Lernen als Entdeckung und als Teilhabe an einem lebendigen Werden ermöglicht, ereignet sich Freiheit. Wir lernen mit den Händen, mit dem Staunen, mit dem Sehen, mit dem Gestalten und Verstehen.
Unsere Erde
Wissen hat vielfältige Dimensionen, es findet sowohl im schöpferischen Tun wie in der Vermittlung, sowohl in der Forschung wie in der Praxis statt.[7] Das pädagogische Handeln setzt ein freies, kreatives, in der Auseinandersetzung mit Kind und Welt sich bildendes Verhältnis voraus; in dieser Atmosphäre ist möglich, dass eine Sehnsucht, eine Bereitschaft und auch ein Wille wächst, sich in freier Form für die Mitverantwortung der gemeinsamen Welt zu entscheiden und dieses Verhältnis autonom und in Verbundenheit zu gestalten. «Die Erziehung muss nicht nur zu einer Bewusstwerdung unseres Heimatlandes Erde beitragen, sondern auch dazu, dass sich dieses Bewusstsein in dem Willen niederschlägt, die Erdenbürgerschaft zu verwirklichen»[8], schreibt Edgar Morin Ende der 1990er-Jahre, im Hinblick auf die grundlegenden Anforderungen an das Lernen und Lehren im 21. Jahrhundert.
Welt-Verbundenheit kann nicht von aussen angeordnet werden. Der Respekt vor der individuellen Entscheidung und die Bejahung der Mit-Verantwortung für die gemeinsame Welt sind grundlegend für ein pädagogisches Tun, dass sich an der Wirklichkeit des Menschen orientiert.
Mit grosser Freude blicken wir auf die kommende Weltlehrertagung, in der wir uns vielen Fragen zuwenden, die mit dem Gestalten solcher Bedingungen für die «Erdenbürgerschaft» verbunden sind.
Constanza Kaliks
Der Text ist eine schriftliche Kurzfassung von Constanza Kaliks Vortrag «Erziehung zur Freiheit. Lernen für eine gemeinsame Welt» – hier der Vortrag auf goetheanum.tv– im Rahmen der Vortragsreihe «Freiheit der Verantwortung».
Referenzen
[1] Vgl. Studie Universität Oxford: Learning loss due to school closures during the COVID-19 pandemic, Engzell, Per; Frey, Arun; Verhagen, Marc D., Feb. 2021 sowie Spiegel Online: Studie zu Corona-Schulschliessungen: Kinder haben wenig oder nichts gelernt
[2] Vgl. Rudolf Steiner. Die geistig-seelischen Grundkräfte der Erziehungskunst Spirituelle Werte in Erziehung und sozialem Leben.Spirituelle Werte in Erziehung und sozialem Leben. Dornach, 1991, GA 305, 3. Vortrag, 18. August 1922, S. 55
[3] Rudolf Steiner. Die geistig-seelischen Grundkräfte der Erziehungskunst Spirituelle Werte in Erziehung und sozialem Leben.Spirituelle Werte in Erziehung und sozialem Leben. Dornach, 1991, GA 305, 1. Vortrag, 16. August 1922, S. 20.
[4] Rudolf Steiner. Geistige Wirkenskräfte im Zusammenleben von alter und junger Generation. Pädagogischer Jugendkurs. Dornach, 1988, GA 217, 6. Vortrag, 8. Oktober 1922, S. 94ff.
[5] Franz Rosenzweig. Briefe und Tagebücher. 1. Band 1900-1018. De Hague, 1979, S. 471.
[6] Josep Maria Esquirol. Humano, más humano. Uma antropologia de la herida infinita. Barcelona: Acantilado, 2021, S. 24f.:«Der Anfang zu sein geht einher mit der Tatsache, dass das erste Wort vom anderen kommt. Ich empfange den Namen, das heisst, ich höre meinen Namen, und dann gebe ich ihn mir selbst: «Ich». Das ist die Reihenfolge: Ich empfange, ich werde gerufen und ich antworte. Weil ich empfange und gerufen werde, spreche ich; weil ich mich gerufen und angeschaut fühle, (erkannt und beachtet), antworte ich. Nun ist das Hören und Sprechen nur im Vertrauen möglich. Das empfangene Wort macht uns zu Zuhörern, zu Nachfolgern. Erst durch die Begegnung und das gehörte Wort wird der Mensch schöpferisch. Nur durch die Begegnung und das gehörte Wort entsteht ein Sinn. Den Namen zu empfangen, ist der Beginn der Berufung. Es macht mich verantwortlich, bevor ich überhaupt fähig bin...» (Übersetzung deepl.com)
[7] Vgl. Boaventura de Souza Santos. O fim do império cognitivo. Coimbra: Almedina, 2020, S. 404.
[8] Edgar Morin. Die Sieben Fundamente des Wissens für eine Erziehung der Zukunft. Hamburg: Krämer, 2015, S. 21.