Ein Bericht über das Kolloquium zur Förderpädagogik am Goetheanum von Philipp Reubke.
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«Wenn wir einem Kind oder jungen Menschen helfen wollen, sollten wir von seinen Fähigkeiten ausgehen, und nicht seine Schwierigkeiten hervorheben.»
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Die Teilnehmenden des Kolloquiums zur Förderarbeit an Waldorfschulen vom 27. bis 29. Oktober 2023 hatten einen diversen beruflichen Hintergrund: Es waren Klassenlehrer, Therapeutinnen, Erzieher, Heilpädagoginnen, Künstler, die aus verschiedenen Ländern kamen (Frankreich, Deutschland, Holland, Spanien, Schweiz und USA) und in ihrer Arbeit verschiedene Schwerpunkte (Extrastunde, Lernhilfe, künstlerische Therapie, in oder ausserhalb der Schule) setzen sowie mit Gruppen arbeiten oder individuelle Unterstützung geben. Trotz aller Unterschiedlichkeit hatten alle eine ganze Reihe gemeinsamer Überzeugungen, die sich unter anderem in dem obigen Satz ausdrücken.
Ziel der Zusammenkunft war es einerseits, in einen Austausch über die Bedürfnisse von Kindern mit Lern- und Entwicklungsschwierigkeiten einzutreten und andererseits zu überlegen, wie der Erfahrungsaustausch im grösseren Rahmen innerhalb der Berufsgruppe bzw. mit anderen pädagogisch Tätigen in der Zukunft gestaltet werden kann.
Im Gespräch wurde zunächst die Vielfältigkeit des Berufsbildes deutlich, gleichzeitig aber auch die Schwierigkeit dieses genau zu greifen, was eine notwendige Abgrenzung zum klassischen «Nachhilfeunterricht» (tutoring) auf der einen Seite sowie zum therapeutischen Bereich auf der anderen Seite erfordert. Dazwischen liegt das Arbeitsgebiet der FörderlehrerIn (learning support teacher) deren Tätigkeit darauf ausgerichtet ist, das Kind in seinem sensomotorischen Entwicklungsprozess wahrzunehmen, notwendige individuelle Entwicklungsprozesse zu unterstützen und damit Lernvoraussetzungen zu schaffen, die dem Kind einen ungehinderten Lernprozess ermöglicht.
Um die förderpädagogische Arbeit von der medizinisch-therapeutischen Förderung abzugrenzen, wurde Steiners Vortrag vom 16.19231 hinzugezogen: «Erziehung muss etwas haben vom Heilen»2 heisst es dort. Die pädagogische Arbeit findet statt zwischen den beiden polaren Kräften: dem oberen Menschen (den Sinnen) und dem unteren Menschen (den Gliedmassen und der Bewegung). In der zweiten Lehrermeditation, die Rudolf Steiner am Ende dieser drei Vorträge gab, wird diese Formel noch einmal bekräftigt. Die Verschreibung von Medikamenten und die Durchführung medizinischer Therapien sind hingegen ausschliesslich Aufgaben der Ärztinnen und Ärzte.
Aus der selbstverständlich nicht vollständigen Beschreibung der Lage in den verschiedenen Ländern ergab sich folgendes: In Spanien gibt es in den waldorfpädagogischen Ausbildungen ein Modul über Förderpädagogik, das sich vor allen Dingen auf die Arbeit von Audrey McAllen stützt3. An vielen Waldorfschulen gibt es Förderunterricht. Wer diese Aufgabe übernehmen möchte, muss eine zusätzliche Teilzeitausbildung machen. Therapeutische Unterstützung hingegen wird ausserhalb der Schule von Freiberuflern angeboten. In keinem der anderen vertretenen Länder schien die Förderarbeit so gut organisiert.
In Deutschland gibt es an vielen Waldorfschulen eine zumindest kleine Stelle für Förderpädagogik, wobei nicht alle Stelleninhabenden eine qualifizierte Ausbildung haben, manchmal auch keine Waldorfausbildung. In den Programmen der Ausbildungszentren hat Förderpädagogik, wenn überhaupt, nur einen kleinen Platz. In der Schweiz und in Frankreich zahlt der Staat grosszügig für individuelle Lernunterstützung, aber nur in staatlichen Schulen. Daher gibt es Förderpädagogik an Steinerschulen nur ausnahmsweise, oft nur durch die Klassenlehrer selber und ohne stringentes Konzept und kollegiale Unterstützung. Relativ gut organisiert sind die Schuleingangsuntersuchung und die Zweitklassuntersuchung, bei der eventueller Förderbedarf festgestellt werden kann.
In den Niederlanden scheint die Situation einigermassen komfortabel zu sein, da die Schulen in vollem Umfang vom Staat unterstützt werden. Sie sind dadurch aber auch erheblichen staatlichen Eingriffen ausgesetzt. Die Mittel für die Fördererziehung wurden den Schulen entzogen und den Eltern übertragen. Für alles gelten strenge Protokolle, was im Förderbereich wenig Raum und Zeit für einen echten Waldorfansatz lässt. An den meisten Waldorfschulen besteht der Förderunterricht darum aus akademischer Hilfe beim Schreiben-, Lesen- und Rechnen lernen: Nachhilfe. Es gibt keine Schulärzte mehr, und nur noch wenige Schulen beschäftigen einen Therapeuten (Eurhythmie-, Kunst-, oder Sprachtherapie) wie es früher der Fall war.
In den USA gibt es drei spezialisierte Ausbildungsstätten für Förderunterricht, die Lage an den Schulen ist aber sehr kontrastiert: An einigen gibt es hervorragenden «learning support» unter Einbeziehung vieler Lehrer und Eltern. Und es gibt solche, die eine Mischung aus Regelschulangeboten mit einem Waldorfansatz anbieten, wobei ein Grossteil der Unterstützungsleistungen von Fachleuten in der Gemeinschaft ausserhalb der Schulen erbracht wird. Es gibt andere, die wenig oder gar keine Unterstützungsdienste anbieten und sich stark auf Fachleute ausserhalb der Schule verlassen, wobei die Kosten für diese Unterstützung von den Eltern/ Erziehungsberechtigten der Kinder getragen werden. Vor allem an diesen Schulen fehlt es an Fachleuten für pädagogische Unterstützung jeglicher Art, so dass die Lehrpersonen ihr Bestes tut, um Ad-hoc-Lösungen zu finden.
Beim Gespräch über die Lage der Kinder und Jugendlichen, mit denen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in letzter Zeit gearbeitet haben, ergab sich, dass intensive Begleitung und kompetente Förderung heute dringender gebraucht werden denn je: Furcht, Nervosität und Zerstreutheit, Unfähigkeit, Frustrationen auszuhalten, fehlende Lernmotivation und Antriebsschwäche, emotionale Hypersensibilität, fehlende körperliche Feinfühligkeit, und -beherrschung, schwache Beobachtungsgabe – die Liste, der Schwierigkeiten, die unter anderem unvollständigen Entwicklungsschritten in der frühen Kindheit ihre Ursache haben, liesse sich beliebig fortsetzen.
Um die förderpädagogische Arbeit sowohl innerhalb der Berufsgruppe als auch bei allen Lehrpersonen zu stärken, wurden folgende Vorhaben ins Auge gefasst: Beteiligung von Kolleginnen und Kollegen aus dem Förderbereich an der internationalen Ausbildertagung am Goetheanum (April 2024), Planung einer Video-Vortragsreihe über Förderarbeit, Kolloquium über Förderunterricht am Goetheanum im Oktober 2024 (Austausch über Methoden mit Fallbeispielen und menschenkundliche Grundlagenarbeit), Tagung für Lehrpersonen, Förderpädagogen und Therapeutinnen am Goetheanum, Oktober 2025).
Motiviert durch einen intensiven Austausch drückten viele die Hoffnung aus, dass immer mehr Pädagoginnen und Pädagogen durch intensives Studium von Steiners Menschenkunde Verständnis für die förderpädagogische Arbeit und eine genügende Dosis Begeisterung für die pädagogischen Aufgaben bekommen:
«Von grösstem Wert aber ist es, dass der Mensch Enthusiasmus hat in seiner Tätigkeit, und diesen Enthusiasmus in seiner Tätigkeit auch voll entwickeln kann, wenn er Pädagoge sein soll. Dieser Enthusiasmus hat eine ansteckende Gewalt; und er ist es allein, der Wunder wirken kann in der Erziehung.»4
Philipp Reubke
Referenzen
1: Rudolf Steiner: Erziehung und Unterricht aus Menschenerkenntnis, (GA 302a)
2: ebd, S. 125
3: Siehe z.B. Audrey McAllen: Die Extrastunde, Stuttgart 2020 (Verlag Freies Geistesleben)
4: GA 302a, S. 123