Beim christlichen Element der Waldorfpädagogik geht es vor allem darum, dass eine Haltung echter Menschenliebe in den Unterricht hineinwirken soll. Andersdenkenden gegenüber tolerant zu sein, ist für Steiner nicht nur eine blosse Duldung, sondern vielmehr ein aktives Interesse an den Gedanken des Anderen. Lesen Sie hier den Beitrag von Albert Schmelzer.
Wir sind zu einer Menschheit zusammengewachsen. Flugzeuge und Schiffe verbinden die Kontinente, Produktions- und Handelsketten umspannen den Globus, Finanzströme und Transaktionen jagen in Sekundenschnelle um die Erde, ein dichtes Netz von Telekommunikation liefert annähernd in Echtzeit Informationen und Daten über entlegenste Gebiete des Universums.
Auch die Gefahren sind global geworden: Atomare-Overkill-Kapazitäten ermöglichen die Selbstvernichtung der Menschheit, Krankheitserreger und Klimawandel nehmen keine Rücksicht auf nationale Grenzen. Damit stellt sich die Aufgabe, aus einem weltumspannenden Bewusstsein heraus Gesellschaft zu gestalten. Nur solidarisch werden sich die grossen Fragen der Gegenwart nach einem friedlichen Zusammenleben der Kulturen, nach einer gerechten Verteilung der Güter und nach einer nachhaltigen Ökonomie lösen lassen.
In diesem Zusammenhang kommt den Religionen eine zentrale Rolle zu, sind sie doch für Milliarden von Menschen Grundlage ihrer Wertorientierung und Lebensführung. Welches Potential liegt in ihnen verborgen? Sind sie durch ihre Diversität Anlass für einen Kampf der Kulturen bis hin zu terroristischen Attacken und kriegerischen Auseinandersetzungen? Oder bieten sie bei aller Unterschiedlichkeit ihrer Bekenntnisse doch die Grundlage für eine globale Ethik der Gewaltlosigkeit und Gerechtigkeit, der Menschenwürde und Nachhaltigkeit? Angesichts dieser Fragen erscheint ein interreligiöser Dialog, wie er inzwischen in vielfältiger Weise geführt wird, von grosser gesellschaftlicher Bedeutung. Das gilt nicht nur auf internationaler Ebene, auf der sich seit 1993 ein Parlament der Weltreligionen regelmässig trifft, sondern auch für die nationalen, regionalen und lokalen Initiativen. Toleranz und Kooperation setzen ein aktives Interesse für die Anschauungen und Motive des Andersgläubigen voraus.
Eine Haltung wahrer Menschenliebe
Hier liegt nicht zuletzt eine pädagogische Aufgabe: Es gilt, den Schülerinnen und Schüler den Reichtum der verschiedenen Religionen bewusst zu machen. Nun wird immer wieder die Anschauung vorgebracht, die Waldorfschule sei eine christliche Schule. Dabei wird auf eine Aussage Rudolf Steiners bei seiner Ansprache zur Abschlussfeier des ersten Schuljahres der ersten Waldorfschule in Stuttgart vom 24. Juli 1920 verwiesen:
«Es ist im Grunde genommen der Geist des Christentums, der durch unsere Räume weht, der, von jedem Lehrer ausgehend, zu jedem Kinde hingeht, auch wenn etwas scheinbar von der Religion Fernstehendes gelehrt wird, wie zum Beispiel Rechnen. Hier ist es immer der Geist des Christus, der, von dem Lehrer ausgehend, in die Herzen der Kinder einziehen soll, dieser Geist, der von Liebe, von wahrer Menschenliebe durchweht ist.»1
Diese Sätze zeigen, dass das christliche Element der Waldorfpädagogik nicht etwas exklusiv Konfessionelles bedeutet, sondern die Haltung echter Menschenliebe, die bis in die Unterrichtsmethodik hineinwirken soll. Noch deutlicher hat Rudolf Steiner die anzustrebende Haltung in Vorträgen vom 11.2.19192 und 16.2.19193 beschrieben. Darin macht er deutlich, dass der moderne, zum Selbstbewusstsein erwachte Mensch einen Defekt in sich trage: das Beharren auf dem eigenen Standpunkt, das Pochen auf die eigene Meinung, das Vorurteil. Dieser Defekt aber fordere uns heraus, den Ring unserer egozentrischen Weltsicht durch energische Selbsterziehung zu überwinden. Rudolf Steiner beschreibt dieses Bemühen als modernen Weg zu Christus:
Wir nähern uns ihm an, «wenn wir unser Interesse erweitern in innerer Toleranz für alles Menschliche […]».4 Der Christusimpuls lasse sich finden, «wenn ich mich als ein Glied der Menschheit bis in das innerste meiner Seele hinein betrachte […].»5 Toleranz ist mehr als Duldung, sie besteht vielmehr in einem aktiven Interesse für die Gedanken des Anderen.
Das betrifft auch die Religion. Wir sind aufgerufen, uns wohlwollend-aktiv auch mit anderen Religionen als unserer eigenen zu beschäftigen: «Sorgfältig muss die Selbsterziehung darüber wachen, dass nichts mehr in der Seele sitzt, was der einen Religion den Vorzug geben könnte vor der anderen.»6 Ausdruck dieser Gesinnung ist Rudolf Steiners Lehrplan-Angabe, im Freien Religionsunterricht der Waldorfschule in Klasse 12 die Weltreligionen zu behandeln: «Gipfeln müsste das darinnen, dass man in der 12. Klasse müsste durchnehmen können eine Übersicht über die Religionen der Welt, aber nicht so, dass man aus dieser Übersicht die Vorstellung hervorrufen soll, alle sind eigentlich unecht, sondern gerade, dass man ihre relative Echtheit durch die einzelnen Formen zeigt.»7 Rudolf Steiner fügte dann noch hinzu, dieser Hinweis beziehe sich auf die «neunte Stufe» des Religionsunterrichts; aus einer Anmerkung ist zu entnehmen, dass damals dazu auch die 11. Klasse gehörte.8
Da bisher noch keine Darstellung für die Behandlung der Weltreligionen in der Oberstufe der Waldorfschulen vorlag, haben Angelika Schmitt und ich versucht, diese Lücke zu füllen und eine Publikation in sieben Bänden mit dem Titel: «Die Weltreligionen – Vielfalt und Zusammenklang» vorgelegt.9 Darin werden folgende Themen behandelt: Religiosität indigener Völker, chinesische Religiosität, Hinduismus, Buddhismus, Judentum, Christentum und Islam.
Religionen entspringen geistigen Erfahrungen
Dabei ist jeder Band ähnlich aufgebaut: Nach einer ersten Annäherung, zumeist durch einen aktuellen Einstieg, werden die Ursprünge der jeweiligen Religion behandelt, ihre grundlegenden Mythen oder die Persönlichkeit des Stifters vorgestellt. Dann folgt normalerweise, beruhend auf den überlieferten heiligen Schriften, eine Darstellung der weltanschaulichen Grundlagen. Dazu zählen die Auffassung vom Göttlich-Geistigen, das Bild der Schöpfung und des Menschen sowie die Ethik. Weitere Kapitel beschäftigen sich mit den vielfältigen Lebensformen: den Symbolen, Riten, Festen und Kulten und den geschichtlichen Entwicklungen.
Dabei kann bemerkt werden, dass es den Konfuzianismus, den Buddhismus oder den Islam, das Judentum oder das Christentum eigentlich gar nicht gibt. Vielmehr haben sich innerhalb eines Stroms über Jahrtausende hinweg vielfältige Formen religiösen Lebens entwickelt. Sie beziehen sich zwar auf einen Ursprung, haben aber im Laufe ihrer Verbreitung zahlreiche Metamorphosen durchlaufen. Ausserdem stellt man fest, dass der im Westen geprägte Begriff der «Religion», der sich auf ein Zurückbinden («religare») an einen göttlich-geistigen Ursprung bezieht, für viele aus uralter Zeit herrührende religiöse Strömungen gar nicht zutreffend ist. Die Trennung von sakraler und profaner Welt hat sich hier nie in der Weise vollzogen, wie dies bei den abrahamitischen Religionen der Fall war: Die Ordnung des irdischen Lebens ist stets durchdrungen von den Gesetzmässigkeiten eines geistigen Kosmos.
Ein Leitmotiv der Darstellung ist die Überzeugung, dass Religionen auf geistigen Erfahrungen beruhen. Sofern das spirituelle Leben nicht Teil der offiziellen Doktrin ist – wie etwa in den östlichen Religionen – wird dieser Aspekt in einem eigenen Kapitel über die Mystik angesprochen. Biographische Skizzen über eine oder mehrere tragende Persönlichkeiten aus jüngerer Zeit runden die Ausführungen ab. Am Ende steht eine Reflexion über den poteniellen Beitrag der jeweiligen Religion zum interreligiösen Dialog. Zusätzlich findet sich im letzten Band zum Islam eine abschliessende Betrachtung zum Zusammenklang der Religionen.
Die Bücher enthalten viele Zitate aus den heiligen Schriften der verschiedenen Religionen und auch zahlreiche bildhafte, erzählende Passagen, sodass sie auch von Schüler und Schülerinnen der oberen Klassen gut gelesen werden können.
Lassen Sie uns auf einige inhaltliche Aspekte schauen. Dabei mögen die folgenden Ausführungen nicht als feste Definitionen oder starre Stereotypen aufgefasst werden. Vielmehr wird nur eine Richtung angedeutet, in die beim weiteren individuellen Studium geblickt werden kann.
Leben jenseits von uns selbst
Der erste Band beschäftigt sich mit der Religiosität der indigenen Völker. Exemplarisch wird die Spiritualität der australischen Aborigines und die Religiosität afrikanischer Kulturen vorgestellt. Dabei lassen sich Ähnlichkeiten entdecken: Beide religiösen Strömungen beschäftigen sich mit der Welt der Ungeborenen und der Toten, mit den Geistern, die in der Gemeinschaft leben, mit den Elementarwesen in Erde, Wasser, Luft und Feuer. Diese Suche nach einer spirituellen Beziehung zur natürlichen Umgebung ist für unsere Gegenwart von zentraler Bedeutung. Zusammenfassend können wir sagen, dass die Religiosität der indigenen Völker sich mit dem Spirituellen beschäftigt, das um uns lebt.
Auch in der chinesischen Religiosität findet sich diese ökologische Komponente. Im Daoismus wird der Erfahrung der Lebenskraft «Qi» gepflegt, die sich in Yin und Yang differenziert und Natur und Mensch durchzieht. Gesundheitsfördernde Praktiken wie etwa Chi Gong und Akupunktur haben hier ihren Ursprung. Der andere, vor allem im Konfuzianismus betonte Aspekt ist die Übereinstimmung von kosmischer und sozialer Ordnung: Wie im Kosmos die Gestirne harmonisch zusammenwirken, so ist jeder Einzelne aufgerufen, durch die Ehrfurcht vor dem Althergebrachten und durch das achtsame Ausüben der Riten seine Menschlichkeit zu entwickeln und sich in angemessener Weise in das gesellschaftliche Ganze einzugliedern. Möglich wird das, wenn die Goldene Regel gegenseitigen Respekts gilt: Was du nicht willst, das man dir tu, das tu auch keinem anderen. Die chinesische Religiosität richtet den Blick auf das Geistige, das über uns ist, sie strebt nach der Einheit von kosmischem und irdischem Sein.
Für den Hinduismus ist charakteristisch, dass seine heiligen Texte, die Veden, auf eine Zeit verweisen, in welcher die Rishis, die inspirierten Verfasser der Hymnen, noch einen unmittelbaren Austausch mit der geistigen Welt pflegten. Die unterschiedlichen Facetten des Yoga streben danach, diesen Zugang durch spirituelle und körperliche Praktiken wiederzuerlangen. Insofern kann das religiöse Leben im Hinduismus als die Hinwendung zum Geistigen hinter uns charakterisiert werden, es strebt nach der Erneuerung einer uralten spirituellen Weisheit.
Der Buddhismus, der aus diesem Streben hervorgewachsen ist, lädt zu einem Weg moralischer Selbstvervollkommnung und meditativer Praxis ein und sucht das Geistige in uns. Er enthält die Lehre von der Überwindung des Leidens und möchte durch eine besondere Schulung die Befreiung aus der Anhaftung an die Sinneseindrücke und die eigenen Vorstellungen erreichen, was in der Erleuchtung, dem Austritt aus dem Kreislauf der Wiedergeburten, gipfeln soll. Dabei orientiert sich die Lebensführung an der Ethik der Achtsamkeit des achtgliedrigen Pfades, welcher die soziale Dimension eines gewaltfreien Lebensstils umfasst.
Ein ganz anderer Aspekt des Religiösen findet sich im Judentum. In der jüdischen Anschauung tritt dem Menschen ein persönlicher Gott entgegen, der Verheissungen gibt und Glauben, Gehorsam und Umkehr erwartet. Die Hoffnung richtet sich auf einen Messias, der am Ende der Zeiten ein Reich universellen Friedens errichten wird. Das jüdische Volk ist aufgerufen, durch eine ethische Lebensführung seine Ankunft vorzubereiten. Somit lenkt das Judentum den Blick auf das Geistige, das vor uns liegt und aus der Zukunft auf uns zukommt. Geleitet durch die Hoffnung auf einen Gott, der den Namen «Ich bin» trägt und den die menschliche Individualität in persönlicher Begegnung ansprechen kann, werden Mensch und Gesellschaft aufgefordert, sich zu höheren Stufen der Gottes- und Nächstenliebe zu entwickeln.
Das Christentum, das aus dem Judentum hervorgegangen ist, setzt einen weiteren Akzent. Nach christlichem Glauben ist der Messias erschienen, Gott ist in Jesus Christus Mensch geworden, hat als geschichtliche Gestalt gewirkt, ist durch den Tod gegangen und auferstanden. Seine schenkende Liebe offenbart sich in Jesu Hinwendung zu den Armen, Ausgestossenen und Verachteten; sie zeigt sich auch in der christlichen Ethik, die zu Gewaltverzicht, Barmherzigkeit und einer universellen Liebe bis hin zur Feindesliebe aufruft. So konnte Goethe in der «Pädagogischen Provinz» seines Romans «Wilhelm Meisters Wanderjahre» sagen, das Christentum lehre die Ehrfurcht vor dem, «was unter uns ist».10
Der Islam schliesslich, dessen religiöser Kern aus den aktuellen Zerrbildern von Fundamentalismus und Dogmatismus erst herausgeschält werden muss, versteht sich als natürliche, universalistische Urreligion; er erinnert an die Grundelemente des Personal-Religiösen: Allah hat die Welt und den Menschen erschaffen, er hat ihm die Vernunft gegeben, sodass er Ihn erkennen kann, er hat ihn die Offenbarung durch die Gesandten und die heiligen Schriften geschenkt, zuletzt durch Mohammed und den Koran. Schliesslich hat er ihm eine klare ethische Orientierung durch die fünf Säulen des Islam gegeben: die Einladung zum Glauben an den einen Gott und an Mohammed als seinen Propheten, die Aufforderung zum fünfmaligen täglichen Gebet, zum Fasten, zur Wallfahrt nach Mekka und zur Armensteuer. Der Islam kann als Suche nach dem Geistigen in der Welt betrachtet werden.
Diese wenigen Anmerkungen mögen ausreichen, um anzudeuten: Die verschiedenen Religionen laden uns ein, unterschiedliche Aspekte des Menschseins zu entwickeln; erst das Einleben in ihre Vielfalt begründet das Bewusstsein eines Universell-Menschheitlichen. Daher sollten Heranwachsende jede dieser Religionen kennen- und schätzen lernen, gerade auch an Waldorfschulen mit ihrer internationalen Verbreitung.
Albert Schmelzer
Literatur
1: Steiner, Rudolf (1980): Rudolf Steiner in der Waldorfschule. Ansprachen für Kinder, Eltern und Lehrer. Dornach: Rudolf Steiner Verlag.
2: Steiner, Rudolf (1968): Der innere Aspekt des sozialen Rätsels. Luziferische Vergangenheit Ahrimanische Zukunft. GA 193. Dornach: Rudolf Steiner Nachlassverwaltung, S. 46-65.
3: Steiner, Rudolf (1957): Die soziale Frage als Bewusstseinsfrage. Die geistigen Hintergründe der sozialen Frage. GA 189. 2. Auflage. Dornach: Rudolf Steiner Nachlassverwaltung. S. 26-45.
4: Steiner, Rudolf (1977): Der innere Aspekt des sozialen Rätsels. Luziferische Vergangenheit und ahrimanische Zukunft. GA 193. Dornach: Rudolf Steiner Verlag, S. 61.
5: Ebd.
6: Steiner, Rudolf (1959): Von der Initiation. Von Ewigkeit und Augenblick. Von Geisteslicht und Lebensdunkel. GA 138. Dornach: Verlag der Rudolf Steiner-Nachlassverwaltung, S. 36.
7: Steiner, Rudolf (1975): Konferenzen mit den Lehrern der Freien Waldorfschule in Stuttgart. GA 300/3. Dornach: Rudolf Steiner Nachlassverwaltung, S. 157.
8: A.a.O., S. 158.
9: Schmelzer, Albert/Schmitt, Angelika (2021): Die Weltreligionen – Vielfalt und Zusammenklang. Stuttgart: edition waldorf.
10: Goethe, Johann Wolfgang (1988): Wilhelm Meisters Wanderjahre. In: Werke. Hamburger Ausgabe. Band 8 München: dtv, Seite 157.