Am Lebensbeginn ist das Menschenwesen noch ganz mit den Prozessen der Leibbildung verbunden und vollkommen von seiner menschlichen und sinnlichen Umgebung abhängig. Es tritt seinen Erdenweg so an, dass es fortwährend durch sein Verhalten zum Ausdruck bringt: «Ich will nicht so bleiben, wie ich bin! Ich will so sein wie die Grossen!»
Wie schon der äussere Wachstumsverlauf zeigt, verläuft die Entwicklung bis zur Mündigkeit keineswegs linear, sondern in unterschiedlichen Phasen mit ihren jeweiligen Möglichkeiten und Krisen.
Der Zahnwechsel und die Pubertät sind zwei markante Ereignisse, die bis in die leiblichen Erscheinungsformen Zäsuren und Umschwünge in der Entwicklung andeuten.
Wir kommen so zu einer groben Gliederung von drei Phasen:
Dabei darf man aber keinem Schematismus zum Opfer fallen. Eine starre Phasenlehre wird in der heutigen Erziehungswissenschaft mit Recht abgelehnt, weil sie der lebendigen Wirklichkeit widerspricht.
Auf der anderen Seite ist jeder leibliche Gestaltwechsel Ausdruck eines seelisch-geistigen Schrittes, wie es die Arbeiten von Jean Piaget eindrücklich gezeigt haben. (Jean Piaget/Bärbel Inhelder, Die Psychologie des Kindes, Olten 1973; Jean Piaget, Theorien und Methoden der modernen Erziehung, Frankfurt 1974). Und nur dann erziehen wir richtig, wenn wir die jeweilige altersspezifische Verfasstheit kennen. Dabei ist neben dem Studium der Anthropologie und Psychologie die unbefangene Beobachtung der konkreten Situation massgeblich und unerlässlich.
Gesundheit durch Balance
Unter solchen Voraussetzungen wollen wir nun die Altersspezifik näher betrachten. Dazu sei kurz auf eine menschenkundliche Entdeckung Rudolf Steiners hingewiesen, der beim Menschen drei unterschiedliche Funktionssysteme findet:
Im so genannten Gliedmassen-Stoffwechselbereich spielt sich unsere Motorik ab. Jede Bewegung ist leiblicher Ausdruck des Willens. Das rhythmische System – Atmung und Zirkulation – ist der leibliche Ausdruck des erlebenden, fühlenden Menschen. Angst, Freude, Schmerz usw. schlagen sich auf den Atem und Puls nieder. Der Nerven-Sinnesmensch, der eigentliche Bewusstseinspol, dessen Zentrum im Kopfbereich (Gehirn) liegt, korrespondiert mit der erkennenden Tätigkeit. Nur wenn diese drei Systeme zusammenwirken und ein Ganzes bilden, ist der Mensch gesund.
Jeder erfährt die Wohltat eines Spazierganges nach einer anstrengenden Computertätigkeit, die bloss den Kopf beansprucht. Wenn wir nach dem Mittagessen verdauen, müssen wir bei konzentriertem Denken ziemliche Widerstände überwinden. Gesund ist man dann, wenn keines dieser Systeme auf Dauer die anderen unterdrückt.
Nun zeigt es sich, dass wir diese drei Systeme auch zeitlich in der Abfolge der drei erwähnten Phasen aufeinander beziehen können.
Vor dem Zahnwechsel lebt das Kind vornehmlich als emotional wollendes Wesen in der Motorik. Auch die Sinnestätigkeit, das Sprechen und das Denken sind an die Bewegung geknüpft und dadurch weitgehend leibgebunden. Das können wir daran sehen, dass ein vierjähriges Kind, wenn es etwas sieht oder hört, gleich den Trieb in sich hat, das Wahrgenommene in Eigenbewegung umzusetzen. So lernt es sprechen, so beginnt es zu spielen. Man kann sich kein Kind vor dem Zahnwechsel vorstellen, das mit verschränkten Armen auf sein Essen wartet. Wahrnehmen löst unmittelbare Willenstätigkeit in den Gliedern aus. Innere und äussere Bewegung gehören noch ganz zusammen.
Mit dem Zahnwechsel beginnt sich die innere von der äusseren Bewegung loszulösen. Ein eigener Erlebnisraum bildet sich aus, und damit emanzipiert sich das rhythmische System gegenüber dem Gliedmassensystem. In diesem Lebensalter pendelt sich auch das harmonische 1:4-Verhältnis von Atem und Puls ein.
Ab der Pubertät bis zur Mündigkeit schliesslich beginnt sich das Denken zu verselbstständigen. Der Mensch erwacht zum kritischen Urteil, gleichzeitig senkt sich die Stimme, die Glieder werden schwer, die Jugendlichen sind gleichsam auf der Erde angekommen und suchen ihre individuelle Persönlichkeit. Es versteht sich von selbst, dass es hierbei mannigfaltige Übergangserscheinungen, Nachklänge des Früheren und Vorwegnahme des Späteren gibt. Hier geht es nur um das Prinzipielle. Das Kind erwacht also zuerst vornehmlich in seinen Gliedern, dann in seinem mittleren Bereich, der mit Empfindung und Erleben zusammenhängt, und schliesslich im Kopf, der uns kritisches Denken vermittelt.
Bewegung – Sprache – Denken
Da aber der Mensch ein Ganzes ist, gibt es einen inneren Zusammenhang zwischen der Bewegung, der Sprache und dem Denken. Dieser Zusammenhang ist in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts durch die gewaltigen Fortschritte der Gehirnforschung vielfach bestätigt worden. Eine Zusammenschau und originelle lesenswerte Darstellung findet sich in dem Buch von Frank R. Wilson, «Die Hand – Geniestreich der Evolution. Ihr Einfluss auf Gehirn, Sprache und Kultur der Menschen», Stuttgart 2000.
Auf jeder Stufe der Entwicklung ist der Mensch eine Ganzheit, die sich von den früheren und späteren Stufen durch das Verhältnis der drei Bereiche zueinander und damit zu dem Subjekt der Entwicklung unterscheidet.
Im groben Überblick können wir sagen: Beim Kleinkind sind Bewegung, Sprechen und Denken innig miteinander verbunden und werden durch die sinnliche Umgebung angeregt und durch Nachahmung angeeignet und entwickelt. Mit fortschreitendem Alter wird das Kind zunehmend fähig, diese drei Hauptfähigkeiten des Menschen relativ unabhängig voneinander zu betätigen.
(Quelle: Heinz Zimmermann, Waldorf-Pädagogik weltweit, 2001, Berlin)