Die erste Schulstunde – es gibt sie nur einmal im Leben. Worauf Lehrerinnen und Lehrer an diesem besonderen Tag achten sollten, lesen Sie in diesem Ausschnitt aus Rudolf Steiners Vortragsreihe «Erziehungskunst».
«Von durchschlagender Bedeutung müssen Sie sich vorstellen die erste Schulstunde, die Sie mit Ihren Schülern in jeder Klasse durchmachen. Von dieser ersten Schulstunde wird etwas viel Wichtigeres ausgehen in einer gewissen Beziehung als von allen andern Stunden. Aber auch die andern Stunden werden dann ausgenützt werden müssen, um das, was von der ersten Stunde ausgehen kann, wiederum für den ganzen Unterricht fruchtbar zu machen.
Wir wollen uns nun gleich im Konkreten vorstellen, wie wir mit den Kindern – und Sie werden ja demnächst in der Lage sein, mit diesen aus allen Windrichtungen der Erziehung und auch Verziehung herkommenden Kindern sich bekanntzumachen – die erste Schulstunde gestalten werden. Natürlich kann ich hier nur allgemeine Andeutungen geben, die Sie dann weiter werden ausgestalten können. Es wird sich darum handeln, dass Sie sich nicht nach gewissen vertrackten Erziehungsgrundsätzen richten, die gerade in der neueren Zeit heraufgekommen sind, sondern dass Sie auf das sehen, was für die Entwickelung des Kindes wirklich von Bedeutung sein kann.
Ins Bewusstsein heben
Sie haben also die Klasse vor sich mit den verschieden gearteten Kindern. Das erste wird sein, dass Sie die Kinder darauf aufmerksam machen, warum sie eigentlich da sind. Es ist von ausserordentlicher Wichtigkeit, dass Sie mit den Kindern etwa in der Art sprechen: Ihr seid also jetzt in die Schule gekommen, und ich will euch sagen, warum ihr in die Schule gekommen seid. – Und nun soll gleich diese Handlung, dass die Kinder in die Schule gekommen sind, ins Bewusstsein heraufgehoben werden. – Ihr seid in die Schule gekommen, weil ihr in der Schule etwas lernen sollt. Ihr werdet heute noch keine Vorstellung davon haben, was ihr alles in der Schule lernen sollt, aber ihr werdet vielerlei in der Schule lernen müssen. Warum werdet ihr vielerlei in der Schule lernen müssen? Nun, ihr habt doch auch schon Bekanntschaft gemacht mit den Erwachsenen, mit den grossen Leuten, und da werdet ihr gesehen haben, dass sie etwas machen können, was ihr nicht könnt. Und damit ihr auch einmal das können werdet, was die Grossen können, dazu seid ihr hier. Ihr werdet einmal das können, was ihr jetzt noch nicht könnt. –
Dass man diesen Vorstellungskomplex mit den Kindern durchgeht, ist ausserordentlich wichtig. Doch dieser Vorstellungskomplex hat noch etwas anderes im Gefolge. Kein Unterricht verläuft im richtigen Fahrwasser, der nicht begleitet ist von einer gewissen Pietät gegen die vorangehende Generation. So gefühls- und empfindungsmässig diese Nuance bleiben muss, so muss sie doch mit allen Mitteln bei den Kindern kultiviert werden: dass das Kind mit Achtung, mit Respekt hinschaut auf das, was die älteren Generationen schon erreicht haben und was es auch durch die Schule erreichen soll. Dieses Hinschauen auf die Kultur der Umwelt mit einer gewissen Achtung, das muss in dem Kinde gleich von Anfang an erregt werden, so dass es wirklich in denjenigen Menschen, die schon älter geworden sind, gewissermassen etwas höhere Wesen sieht.
Ohne die Erweckung dieses Gefühls kommt man im Unterricht und in der Erziehung nicht vorwärts. Man kommt aber auch nicht vorwärts, wenn man nicht dasjenige ins Bewusstsein der Seele heraufhebt, was nun eigentlich werden soll. Daher stelle man weiterhin mit dem Kinde folgende Betrachtungen an, ganz ohne Bedenken dagegen, dass man etwa damit schon über den Horizont des Kindes hinausgeht. Das macht nämlich nichts, wenn man vieles zu dem Kinde sagt, was es erst später begreifen wird. Der Grundsatz, dass man an das Kind nur heranbringen solle, was es schon begreift, worüber es sich schon ein Urteil bilden kann, das ist der Grundsatz, der so vieles in unserer Kultur ruiniert hat. –
Ein sehr bekannter Erzieher einer noch viel bekannteren Persönlichkeit der Gegenwart hat sich einmal gerühmt, diese Persönlichkeit nach dem folgenden Grundsatze erzogen zu haben. Der Mann sagte: Diesen Jungen habe ich gut erzogen, denn ich habe ihn gezwungen, sich sofort über alles ein Urteil zu bilden. (...) – Sie sehen daran, dass man in den gegenwärtigen Pädagogiken vieles von dem finden kann, wie man es nicht machen soll, denn es liegt eine grosse Tragik in dieser Art des Erziehens, und diese Tragik wieder ist verknüpft mit der gegenwärtigen Weltkatastrophe. Es handelt sich also nicht darum, dass das Kind sich über alles sofort ein Urteil bildet, sondern dass es zwischen dem 7. und 15. Jahre das, was es aufnehmen soll, aufnimmt aus Liebe, aus Autorität zum Erzieher.
Daher suche man auch das schon angedeutete Gespräch, das man in beliebiger Weise erweitern kann, etwa so mit dem Kinde fortzuführen: Sieh einmal, die Erwachsenen haben Bücher und können lesen. Du kannst noch nicht lesen, aber du wirst lesen lernen, und du wirst, wenn du dann lesen gelernt hast, auch einmal die Bücher zur Hand nehmen können und aus ihnen dasjenige wissen können, was die Grossen aus diesen Büchern wissen können. Die Grossen können sich auch Briefe schreiben, können sich überhaupt über alle Dinge etwas aufschreiben. Du wirst später auch Briefe schreiben können, denn ausser dem, dass du lesen lernst, wirst du auch schreiben lernen. Und ausser Lesen und Schreiben können die Grossen auch Rechnen. Du weisst noch gar nicht, was Rechnen ist. Aber Rechnen muss man im Leben können, wenn man zum Beispiel etwas zum Essen einkaufen will, oder wenn man Kleider einkaufen oder anfertigen will. – Solch ein Gespräch muss man mit dem Kinde führen und ihm dann sagen: Auch Rechnen wirst du lernen. –
Es ist gut, wenn man die Aufmerksamkeit des Kindes darauf hinlenkt, und wenn man dann vielleicht gleich am nächsten Tage seine Aufmerksamkeit wieder darauf zurücklenkt, so dass man also in öfteren Wiederholungen auch dieses mit dem Kinde durchnimmt. Wichtig ist es also, dass man dasjenige ins Bewusstsein heraufhebt, was das Kind in einer solchen Weise tut. Überhaupt ist es für den Unterricht und für die Erziehung von grösster Wichtigkeit, dass man darauf sieht, dasjenige – wenn ich mich des Ausdrucks bedienen darf – bewusst ins Bewusstsein heraufzubringen, was sonst gewohnheitsmässig im Leben vor sich geht. Dagegen ist es nicht von Vorteil für den Unterricht und für die Erziehung, wenn man in den Unterricht allerlei hineinfügt, was man nur zum Zwecke, sogar nur zum scheinbaren Zwecke des Unterrichts hineinfügt.
Sie können heute finden, dass empfohlen wird, das Kind solle in die Schule kommen, ausgerüstet mit abgebrannten Zündhölzchen in einer Schachtel, und es sollte dann angeleitet werden, mit diesen abgebrannten Zündhölzchen – die am besten nicht rund sind, sondern viereckig, damit sie auf den schiefen Bänken des Schulzimmers nicht herunterrollen – Stäbchen zu legen. Es solle zum Beispiel angeleitet werden, ein Haus mit diesen Zündhölzchen nachzuformen und ähnliches. Stäbchenlegen ist ja ein Lieblingsfach, das heute für junge Kinder ganz besonders empfohlen wird. Eine solche Sache aber nimmt sich gegenüber einer wirklichen Erkenntnis des Lebens wie eine Spielerei aus, es hat keine Bedeutung für das Wesen des Menschen, irgend etwas am Stäbchenlegen zu lernen. Denn der Mensch kann so etwas, wozu das Stäbchenlegen führen kann, im späteren Leben nur als Spielerei ansehen.
Es ist nicht gut, dass man blosse Spielereien in die Erziehung einführt. Dagegen das wirkliche Lebensvolle in die Erziehung einzuführen, das ist unsere Aufgabe; was aber blosse Spielerei ist, sollte nicht eingeführt werden. Also missverstehen Sie nicht: ich sage nicht, dass das Spiel nicht in die Erziehung eingeführt werden sollte, es soll nur nicht ein für den Unterricht künstlich hergerichtetes Spiel in die Schule eingeführt werden. Über die Art, wie sich das Spiel in den Unterricht eingliedern soll, werden wir noch viel zu reden haben.
Wie kann man aber nun wirklich, und zwar auf die Willensbildung gleich von Anfang an wirken?
Wenn man in hinreichender Weise das durchgesprochen hat, was ich jetzt auseinandergesetzt habe, was auf der einen Seite dazu bestimmt ist, dass das Kind ein Bewusstsein dafür entwickelt, wozu es in der Schule ist, und was auf der andern Seite bestimmt dazu ist, dass das Kind eine gewisse Achtung, einen gewissen Respekt vor den Erwachsenen bekommt, dann ist es wichtig, dass man zu etwas anderem übergeht.
Der Unterricht soll gut verdaut werden
Es ist dann gut, wenn man ihm zum Beispiel sagt: Sieh dich einmal selber an. Du hast zwei Hände, eine linke Hand und eine rechte Hand. Diese Hände hast du zum Arbeiten; mit diesen Händen kannst du allerlei machen. – Also auch das, was am Menschen ist, versuche man ins Bewusstsein heraufzuheben. Das Kind soll nicht nur wissen, dass es Hände habe, sondern es soll sich auch bewusst werden, dass es Hände hat. Natürlich werden Sie nun vielleicht sagen: Es hat doch ein Bewusstsein davon, dass es Hände hat. – Aber es ist ein Unterschied, ob es weiss, dass es Hände zur Arbeit hat, oder ob ihm dieser Gedanke nie durch die Seele durchgegangen ist. Hat man mit dem Kinde über die Hände und über das Arbeiten mit den Händen eine Zeitlang gesprochen, so gehe man dazu über, das Kind irgend etwas in Handgeschicklichkeit machen zu lassen. Das kann unter Umständen schon in der ersten Stunde geschehen. Man kann ihm sagen:
Jetzt mache ich dies (siehe Zeichnung links). Also nimm deine Hand und mache es auch! –
Man kann die Kinder nun dasselbe machen lassen, möglichst langsam, denn es wird sich schon langsam vollziehen, wenn man die Kinder einzeln herausruft, sie an der Tafel dieses machen lässt und sie dann wieder an ihren Platz gehen lässt. Das richtige Verdauen des Unterrichtes ist dabei von grösster Bedeutung.
Darnach kann man dem Kinde sagen: Jetzt mache ich dies (die Zeichnung oben); jetzt macht ihr mit eurer Hand dies auch. - Nun macht jedes Kind dies auch. Nachdem dies absolviert ist, sagt man ihnen: Dies eine ist eine gerade Linie, und das andere ist eine krumme Linie; ihr habt also jetzt mit euren Händen eine gerade und eine krumme Linie gemacht. - Den Kindern, die ungeschickt sind, hilft man, aber man sehe darauf, dass jedes Kind es gleich von Anfang an in einer gewissen Vollkommenheit macht. So also sehe man darauf, dass man die Kinder gleich von Anfang an etwas tun lässt, und man sehe weiter darauf, dass dann eine solche Handlung in den nächsten Stunden wiederholentlich durchgenommen wird. Man lässt in der nächsten Stunde also eine gerade Linie machen, dann eine krumme Linie.
Nun kommt da eine feine Nuance in Betracht. Es ist nicht zuerst der grosse Wert darauf zu legen, dass Sie die Kinder aus dem Gedächtnisse eine gerade und eine krumme Linie machen lassen; sondern Sie machen auch das nächste Mal die gerade Linie an der Tafel vor und lassen die Kinder sie nachmachen und die krumme Linie ebenso. Nur fragen Sie dann: Du, was ist das? – Eine gerade Linie! – Du, was ist das? – Eine krumme Linie! – Sie sollten also das Prinzip der Wiederholung ausnützen, indem Sie das Kind die Zeichnung nachmachen lassen und, indem Sie es nicht selbst angeben, das Kind selber die Angabe machen lassen, was es vor sich hat. Diese feine Nuance zu benutzen, ist von grosser Bedeutung. Sie müssen überhaupt darauf Wert legen, gewohnheitsmässig den Kindern gegenüber das Richtige zu tun, in Ihre Gewohnheiten hinein die Unterrichtsmaximen zu bekommen.»
Dieser Text ist ein Ausschnitt aus der Vortragsreihe «Erziehungskunst, Methodisch-Didaktisches», die Rudolf Steiner anlässlich der Gründung der Freien Waldorfschule 1919 in Stuttgart gehalten hat. Sie finden den ganzen Text im vierten Vortrag der GA 294.