Im Mai 2025 hat sich der «Haager Kreis» in Budapest getroffen. Eines der Hauptthemen war das Ungleichgewicht auf dem Planeten Erde und der damit verbundenen Frage: Wie kann in der Erziehungspraxis eine nachhaltige Änderung im Innen vorbereitet werden? Ein Beitrag von Philipp Reubke.
«Unsere Stadt ein hat ein reiches Vereins-, Kultur- und Wirtschaftsleben. Hier sind alle willkommen, die daran teilnehmen möchten», sagte der Bürgermeister der ungarischen Kleinstadt Budaörs zur Begrüssung des Publikums einer Eurythmie-Aufführung von örtlichen Waldorf-Schülern und Schülerinnen. «Wir schätzen das auch an der Waldorfbewegung: Die Einrichtungen werden getragen von starken Gemeinschaften, die auch offen sind für andere gesellschaftlichen Gruppen. Die Weltoffenheit von Waldorf zeigt sich auch daran, dass hier in unserem Mehrzweck-Saal Vertreter von Waldorfeinrichtungen aus 35 Ländern versammelt sind.»
Das war am 31. Mai 2025. Die Mitglieder der Internationalen Konferenz für Waldorf Steiner Pädagogik (Haager Kreis) hielten ihre Frühjahrkonferenz in der Waldorfschule in Pesthidegkut, einem Stadtteil von Budapest ab, und waren am Samstag zu zwei Eurythmieaufführungen eingeladen: am Vormittag im Kulturzentrum in Budaörs, wo Schüler verschiedener Klassen ein diverses Eurythmieprogramm vor Eltern und Freunden der Schule auf die Bühne brachten, und am Nachmittag im Theater des Gewerkschaftshauses in Budapest. In Begleitung eines Symphonieorchesters kamen dort zwei Werke der Wiener Klassik zur Aufführung: Beethovens Zweite und Schuberts Fünfte.
Kreativität in der Umgestaltung ehemaliger Schul- und Militärgebäude zu Waldorfschulen, originelle Einfälle bei der Organisation von Waldorf-Oberstufen, Eurythmie, Kunst und Gastfreundschaft: Die Erlebnisse, die wir als Gäste in Ungarn hatten, zeugten von der Dynamik und Inspiration der ungarischen Kolleginnen und Kollegen. Auf der Weltliste der Waldorfeinrichtungen sind 44 Schulen und 58 Kindergärten aufgeführt. Keine Einrichtung ist älter als 35 Jahre.
Es gab zwei Schwerpunkte beim Treffen des Haager Kreises: Die Lage der Waldorfbewegung im Kontext der aktuellen Zeitsituation und die Beschäftigung mit den anthroposophischen Grundlagen der Waldorfpädagogik.
Zum ersten Themenschwerpunkt gehörten Berichte aus den USA und Ungarn sowie Gespräche zu der in vielen Regionen auftauchenden Tendenz, Menschen nur nach ihrer Zugehörigkeit zu ethnischen, religiösen oder anderen Gruppen zu behandeln. Die Zunahme von Intoleranz und Exklusion sowie der Aberglaube, dass Konflikte durch Gewalt lösbar seien, erschwert die Arbeit in vielen Waldorfeinrichtungen. Für Kollegen und ehemalige Schülerinnen aus der Ukraine, Russland, Libanon, Myanmar und anderswo ist das zum Teil lebensbedrohend.
Bei den Beiträgen und Gesprächen zum zweiten Punkt – hier ging es diesmal um einige Texte aus dem Band «Anthroposophische Leitsätze» – wurde einmal mehr deutlich, wie die Zielrichtung der Waldorfpädagogik in die entgegengesetzte Richtung geht. Es geht um die Entwicklung von Intelligenzkräften – die von Wärme, Fürsorglichkeit, Lebensbejahung und Verantwortung für die Gesellschaft erfüllt sind statt von Egoismus, Weltverneinung, Kälte und Erbarmungslosigkeit.
In den «Leitsätzen», einer Sammlung von Artikeln, die Steiner in seinen letzten Lebensmonaten verfasste, geht es nicht nur darum, wie diese Gegensätze auf der Bühne unseres Bewusstseins auftauchen. Es geht auch um Wesen und Prozesse, die sich hinter der Bühne abspielen und die Denkweisen der Bühnen-Akteure in dieser oder jener Weise zu beeinflussen suchen.
Die menschlichen Tragikomödien erscheinen auf dem Hintergrund eines grossen Welttheaters. Manches, was wir als Schwierigkeit oder Anlass zur Mutlosigkeit erleben, erscheint relativiert in einer anderen Beleuchtung. Und unsere Erziehungspraxis, unsere Erziehungsideale tauchen plötzlich in einer viel tieferen Bedeutung auf.1
Das Ungleichgewicht des Aussenraumes
Zum ersten Themenschwerpunkt gehört auch die Frage, wie die Waldorfbewegung von der Tatsache berührt wird, dass das Ungleichgewicht des Planeten Erde zwar seit über 50 Jahren die Gemüter bewegt, dass sich im menschlichen Willen, Fühlen und Denken, in denen die Ursachen des Ungleichgewichts liegen, aber nur oberflächlich oder nichts geändert hat.
In letzter Zeit werden Schutz- und Vorsichtsmassnahmen in vielen Ländern sogar wieder rückgängig gemacht. Was kann in der Erziehungspraxis anders oder besser gemacht werden, damit eine nachhaltige Änderung vorbereitet wird? Im Haager Kreis gibt es seit einigen Sitzungen Gespräche und Beiträge über diese Frage. Eine ausführliche Dokumentation ist in Vorbereitung.
In Budapest erinnerte Michal Ben Shalom aus Israel an Steiners Lehrplanvorschlag, sinnige Geschichten über Pflanzen und Tiere über die Zusammenhänge in der Natur zu erzählen. Hier käme es darauf an, nicht oberflächlich und niedlich zu bleiben, sondern durch Beobachtung, durch vertieftes Interesse eine Beziehung zum Berg, zur Quelle, zum Vogel und zum Wolf aufzubauen – mit der Frage zu leben: Wer bist du? Michal sprach sich dafür aus, von innen die Naturwesen zu erfühlen, zu erdenken und einen vorwissenschaftlichen, intuitiven Weltbezug für die Kinder herzustellen. Und vielleicht könnte man diese Praxis der «Naturgeschichten» in einem geeigneten Stil auch in der Mittelstufe noch beibehalten? Das Ziel wäre, eine Beziehung zur Natur vorzuleben, Zusammenhänge in Bildern zu zeigen, anstatt Einzelheiten zu definieren und über Nützlichkeit zu sprechen.
Lourdes Tormes aus Spanien erinnerte daran, dass für das kleine Kind in den ersten Lebensjahren die innere Haltung des Erwachsenen entscheidend sei für den Aufbau des künftigen Weltbezugs des Kindes. Das schützende, sinnvolle, authentische und von klaren Intentionen getragene Verhalten der Erwachsenen bildet die Grundlage für die motorische, die sprachliche und die gedankliche Entwicklung. Lourdes formulierte Überlegungen zur Gestaltung der in Waldorfkreisen weitverbreiteten Jahreszeiten-Tische. Die sinnvolle Intention dabei sei die Verbindung von Aussenraum und Innenraum, die für das kleine Kind zum Bild werden könne, wie der Innenraum – die seelisch geistige Tätigkeit – einen innigen Zusammenhang hat mit dem Aussenraum der Natur. Die Welt erscheint neu und sinnvoll im Denken und Fühlen des Menschen.
Denken und Fühlen sind nicht getrennt von der Welt, sondern sind aus dem Kosmos hervorgegangen und bringen seinen Sinn zum Bewusstsein. Wenn aber auf den Jahreszeiten-Tischen nur künstliches, stilisiertes Spielzeug wie Holzregenbögen und Wattengel sich befände, gehe der pädagogische Wert verloren. Der könne sich für das kleine Kind nur dadurch zeigen, dass tatsächlich aus der Natur etwas nach drinnen mitgebracht wird, da schön arrangiert, liebevoll behandelt, als Miniatur Staunen und Ehrfurcht erregen kann.
Hat nicht – so wie in den «Leitsätzen» beschrieben, Erde und Mensch einen gemeinsamen Ursprung im Makrokosmos, hat nicht der Mensch durch Wissenschaft und Kultur eine besondere Verantwortung, ein angemessenes Bewusstsein vom Wesen der Natur, seiner schwesterlichen Partnerin, zu entwickeln und sie liebevoll zu behandeln?
Schliesslich ging es in Budapest noch um mehrere Baustellen der Steiner Waldorf Bewegung: Es wurde eine Neufassung der «Wesentlichen Merkmale der Waldorfpädagogik» besprochen und verabschiedet. Es gab einen ausführlichen Gedankenaustausch zur Vorbereitung der nächsten «World Teachers' Conference» und es gab eine Einheit, in der den Pionieren der ausführlichen Editionen der Lehrplanvorschläge gedankt und ihre Arbeit im Kontext der aktuellen Neuausgaben gewürdigt wurde (hier mehr dazu).
Schliesslich wurde noch an zwei Projekte erinnert, deren Vorbereitung so gut wie abgeschlossen ist: Das sind eine Tagung in Paris, die der Haager Kreis gemeinsam mit der französischen «Fédération Pédagogie Waldorf» vorbereitet sowie die «Welttagung Kindergarten und frühe Kindheit», welche die Pädagogische Sektion gemeinsam mit der IASWECE am Goetheanum veranstaltet.
Philipp Reubke
Fussnoten
1: Rudolf Steiner.- Anthroposophische Leitsätze.- (GA 26) 12. Auflage, 2024.