Schule ist keine Maschine. Sie soll ein Organismus sein, der sich verändert – je nachdem wie das interne oder das externe Umfeld ist. Zu diesem Umfeld zählen etwa die Lehrpersonen, die Kinder, die Eltern wie auch das religiöse und das soziale Umfeld des Ortes, an dem man sich befindet. All das muss laut Rudolf Steiner wahrgenommen werden. Am Beispiel von Christoph Kolumbus zeigt Philipp Reubke anschaulich, wie wichtig eine solche «Kontextsensitivität» ist.
Am 12. Oktober 1492 ankerten drei Segelschiffe unter dem Kommando eines aus Genua stammenden Abenteurers namens Cristoforo Colombo (auf deutsch: Christoph Kolumbus) an einer Insel der Bahamas. Irgendwie konnte sich die spanische Besatzung der Schiffe mit den Bewohnern der Insel verständigen, Glasperlen wurden gegen Baumwolle und Papagei-Federn getauscht. Die Seeleute meinten zu verstehen, dass die Insel von ihren Bewohnern Guanahani genannt wurde. Die Begegnung verlief friedlich und die Schiffe segelten weiter. 500 km weiter südlich stiessen sie auf eine weitere, sehr grosse Insel, von den Bewohnern «das Wunderbare» das «gebirgige Land» genannt. [1] Wie kam es, dass dieser Tag der Beginn einer gigantischen Katastrophe für alle Bewohner der heute Karibik genannten Region wurde?
Von den geschätzten 15 Millionen Bewohnern der Inseln lebten zwölf Jahre später nur noch 100'000 [2], fünfzig Jahre später gab es von der Bevölkerung dieses paradiesischen Inselreiches praktisch keine Nachkommen mehr. Versklavt, ermordet, durch die von den Europäern eingeführten Krankheiten dahingerafft – das Ereignis, das in der sogenannten zivilisierten Welt als Beginn der Neuzeit und als «Entdeckung» des Kontinents «Amerika» gefeiert wurde, war für die friedlichen Bewohner von Guanahani sowie der vielen anderen Inseln der Beginn der Barbarei und das Ende ihrer Kultur. Nüchtern betrachtet lag das Problem vor allen Dingen in der Unfähigkeit und dem Fehlen jeglicher Motivation, eine Beziehung zu den Menschen zu entwickeln, denen sie dort begegneten.
Auf der kognitiven Ebene gab es riesige Vor- und Falschurteile: Colombo dachte, Guanahani befände sich südlich von Japan, von wo aus er in Kürze Hangzhou an der Ostküste Chinas erreichen wollte. Die ihm unbekannte Welt, die er betreten hatte, verdeckte er mit den damals in Europa bekannten Begriffen über China. Anstatt über das Neu-Erfahrene zu staunen und es kennen zu lernen, benannte er alles, was er vorfand, mit den aus seiner Heimat und seiner Kultur üblichen Namen: Heiliger Heiland (San Salvador), Weihnachten (La Navidad), Sankt Martin (San Martín) und die Trinität (Trinidad) mussten als Namen für die Karibikinseln herhalten. «Das wunderbare Land» wurde kurz und bündig zur «spanischen Insel» erklärt (La isla española). Triebfeder für sein Handeln war schliesslich nicht, eine unbekannte Welt kennenzulernen, sondern möglichst viel Gold zu finden und reich zu werden. Für diesen Zweck gebrauchte er die Menschen, denen er begegnete: Sie mussten Gold suchen oder er versklavte sie mit Gewalt nach Europa.
Da die über den Atlantik gesegelten Europäer die ihnen unbekannte Inselwelt und ihre Bewohner nicht kennen lernen und keine Beziehung zu ihnen aufbauen wollten, gab es auch in den Bereichen von Kultur sowie Religion nur Missverständnisse und Gewalt. Den Einheimischen wurde irgendwann bewusst, dass sie nur als Mittel für die Zwecke der Ankömmlinge gebraucht wurden. Wie sollten sie ahnen, dass der Name «Christus», der dauernd von den fremden Ankömmlingen genannt wurde, der Name eines Gottes der Liebes- und Friedensfähigkeit sein könnte? Nicht aus Interesse, sondern nur gezwungenermassen gaben sie Lippenbekenntnisse zu dem Gott der brutalen Reisenden ab.
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Über Jahrhunderte verhielten sich viele Europäer wie Cristoforo Colombo. Es führte zum Untergang unzähliger Kulturen und Religionen und zur Ausbreitung der westlichen, materialistischen Zivilisation, die durch die Aufklärung und die moderne Naturwissenschaft ermöglicht wurde. Viele Menschen fühlen heute den Verlust, das Unrecht und das Leid, welches hierdurch verursacht wurde.
In Bezug auf die vielen anderen kulturellen Strömungen, die in Europa auch noch aufgetaucht sind – Malerei, Musik, Philosophie, Literatur, Pädagogik und der nicht so auffällige Fluss «Anthroposophie und Waldorfpädagogik» wird heute die Frage gestellt: Haben sie sich durch die Macht und die Dominanz der «Ankömmlinge» ausgebreitet? Oder gab und gibt es ein wechselseitiges ehrliches Interesse und eine Beziehung, durch die alle Beteiligten weltweit zur Kreativität angeregt werden, so dass sich die Kulturen befruchten und weiterentwickeln?
Viele Akteure der Waldorfpädagogik weisen entschieden den Vorwurf zurück, dass auch in der Waldorfpädagogik hier oder dort eine kolonialistische Haltung aufgetaucht sein könnte. Und in der Tat: In vielen Ländern und Kulturen haben Pädagogen sowie Eltern immer wieder hervorgehoben, dass die Waldorfpädagogik es gerade ermögliche, die unter westlichem Einfluss zurückgedrängte regionale Kultur wieder zu beleben.
Zu Steiners Lebzeiten gab es keine Gründungen von Waldorfschulen ausserhalb Europas. Wenn wir einiges Grundsätzliches beherzigen, was er damals zu Lehrpersonen gesagt hat, kann es uns helfen, achtsam zu bleiben. Beispielsweise diese Bemerkung von 1922 in Oxford:
«Die Waldorfschule ist von vornherein ein Organismus und kann nicht dadurch organisiert werden, dass man ein Programm entwirft, wie nun die Schule eingerichtet sein soll: Paragraph 1, Paragraph 2 und so weiter. Paragraph 1 oder Paragraph 5 würde vielleicht heissen: der Lehrer soll so oder so sein. Die Lehrerschaft besteht ja nicht aus etwas, was man aus Wachs knetet, sondern man muss den einzelnen Lehrer suchen; man muss ihn hinnehmen mit den Fähigkeiten, die er hat.» [3]
Das heisst: Die Schule soll keine Maschine sein, die unter allen Umständen genauso funktioniert. Sie soll ein Organismus sein, der sich verändert, je nachdem wie die internen und die externen Bedingungen sind. Diese Bedingungen, so heisst es dann weiter im Vortrag Steiners, müssten zunächst wahrgenommen und studiert werden: Die Lehrpersonen, die Kinder, die Eltern. Und so kann man in seinem Sinne fortfahren: Auch die kulturellen, religiösen, politischen und sozialen Bedingungen des Ortes, an dem man sich befindet, muss man kennenlernen.
Das ist eine ganz klare Einladung, Colombos Fehler auf der kognitiven Ebene nicht zu wiederholen. Nicht dem Unbekannten meine bekannten Begriffe überstülpen, sondern es unbefangen kennenlernen. Nicht von einem Programm ausgehen, sondern den Organismus Kindergarten oder Schule nach und nach durch Einbeziehung der neuen Wahrnehmungen und Erkenntnisse entstehen lassen. Um nicht Colombos Fehler auf der emotionalen Ebene zu wiederholen, hilft folgende Bemerkung Steiners:
«Man muss, wenn man für die Menschheit auf der Erde überhaupt Verständnis gewinnen will in Bezug auf ihre ethisch-religiösen Ziele, sich auf der einen Seite die Vorurteilslosigkeit aneignen, nicht irgendein Ideal an sich für wertvoller zu halten als das andere, sondern ein jedes nur verstehen zu wollen.» [4]
Eine äusserst schwierige Aufforderung! Ein Mensch, der jahrelang in Europa Anthroposophie studiert hat und jetzt zum Beispiel auf den Fidschi-Inseln lebt und dort einen Waldorfkindergarten gründen will, ist eingeladen, der unbekannten Welt mit völliger Vorurteilslosigkeit gegenüberzutreten, die Ideale der dortigen Menschen verstehen zu wollen und das eigene Ideal nicht für wertvoller zu halten. In diesem Sinne würde ich auch fortfahren: Wer mit Empathie zugehört hat, wie die anderen ihre «ethisch religiösen Ziele» beschrieben haben und dann auch eigene Ideale formulieren will, kann das nicht mit den ihm bekannten Worten tun, die aus einem anderen Kontext stammen. Die Namen Sankt Martin, die Dreifaltigkeit und Christus mögen für den Sprecher auf höchste Menschheitsideale hinweisen – wenn nicht beachtet wird, ob und was die Zuhörer damit verbinden, ist die dauernde Wiederholung der Namen eine Form von… Colombos Verhalten vor Guanahani.
Ein weiterer besonders gravierender Fehler Colombos ist die Manipulation und Freiheitsberaubung seiner Gastgeber. Im Grunde hatte nur der eine Überlebenschance, der sich unterordnete und die Kultur der Ankömmlinge annahm. – In der Pädagogik drückt sich diese Art von Fehlverhalten so aus, dass die Erwachsenen die ausgesprochene oder unausgesprochene Tendenz haben, den Kindern die eigenen Werte und Normen überzustülpen. Steiner war strikt dagegen:
«Das aber muss aus jeder Erziehungskunst ausgeschlossen werden, dass wir das Bestreben haben, die Menschen so zu erziehen, dass sie werden wie wir selber..» [5]
Wer diese Gedanken im Sinn hat, wird mit Recht sagen, dass Waldorfpädagogen und Steinerpädagoginnen gerade das Gegenteil einer kolonialistischen Haltung pflegen. (Unter der Voraussetzung, dass niemand die konkreten Vorschläge, die Steiner vor hundert Jahren für eine Schule in Süddeutschland gemacht hat einfach übernimmt, ohne zu fragen, wie sie sich für eine neue Zeit, für einen anderen Ort metamorphosieren könnten...)
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Heute müssen wir nicht mehr lange reisen, um kulturelle Vielfalt kennenzulernen – wir finden sie immer häufiger vor unserer Haustür. Jeder Kindergarten, jede Schule kann daher üben, aus den Fehlern Colombos zu lernen:
Die Autoren eines Leitfadens für Waldorfausbildungen formulieren es so: Lehrpersonen und Ausbilder in Waldorfschulen «sind kontextsensitiv und bemühen sich um Vielfalt und differenzierte Methoden. Sie verstehen ihre Zeit und respektieren die Qualitäten und die Geschichte, sowie die kulturelle und gesellschaftliche Komplexität ihres Tätigkeitsortes.» [6]
Philipp Reubke
Literaturhinweise
[1] Kiskeya (übersetzt etwa «wunderbares Land») oder auch Ayití (übersetzt «gebirgiges Land») sind die ursprünglichen Namen der Insel, auf denen sich heute Haiti und die Dominikanische Republik befinden.
[2] Salvador de Madariaga: The Rise of the Spanish American Empire Hollis and Carter Publishers, London 1947; William Denevan: The Native Population of the Americas in 1492 University of Wisconsin Press, Madison 1976.
[3] GA 305, 7. Vortrag
[4] GA 303, 16. Vortrag
[5] GA 303, 16. Vortrag
[6]«Wege zur Kreativität in der Pädagogik – Leitlinien für die Ausbildung von WaldorflehrerInnen», zusammengestellt im Rahmen des International Teacher Education Project (ITEP) von Neil Boland und Jon McAlice.