Ein Forum und eine Arbeitsgruppe haben sich an der Word Teachers’ Conference 2023 dem Thema «Aufgabe einer Pädagogik der digitalen Lebenswelt» gewidmet. Denn Kinder und Jugendliche werden in den kommenden Jahren mit grundlegenden Veränderungen konfrontiert sein. Die digitale Transformation wird ihre Biografien prägen. Ein Beitrag von Robin Schmidt in «Das Goetheanum», hier in einer gekürzten Version.
E-Mail, Social Media, Videokonferenzen oder Lernplattformen sind Orte, in denen Bewusstseinspräsenz gefordert ist, um Entscheidungsverläufe mitzuvollziehen, zu antworten, Freundschaften zu pflegen oder etwa Aufgaben erfüllen zu können. In diesem Raum bilden Vorstellungen, Fantasien, Illusionen, Erinnerungen in Gestalt von Texten, Ikonen, Filmen, Fotos sowie die Reaktionen darauf das Material, in dem sich das Bewusstsein aufhält.
Digitale Medien lassen sich so als «Vorstellungsmaschinen» verstehen, die einen Raum schaffen, in dem wir uns bequem mit unserem Bewusstsein in Produkten des Innenlebens bewegen und mit ihnen agieren können. Es sind Technologien, die uns erlauben, nicht nur dann in der Welt der Bilder, Vorstellungen, Erinnerungen zu sein, wenn wir sie mit dem Bewusstsein eigentätig hervorbringen. Wir können auch in ihnen leben und mit ihnen interagieren, fast ohne eigene Tätigkeit.
Leben in der «Unternatur»
Die Architektur der digitalen Räume ist in den letzten zehn Jahren so dicht geworden, dass der Aufenthalt dort für viele Menschen, insbesondere in den früheren Industrienationen, tagfüllende Normalität ist. Diese zur Lebenswelt verdichtete und mit dem Bewusstsein bewohnte digitale Umgebung lässt sich als eine technische Form der «Übernatur» charakterisieren. Sie bildet ein Gegenstück zur von Maschinen geprägten Lebenswelt des Industriezeitalters, die Rudolf Steiner «Unternatur» genannt hat.
Das Leben in dieser «Unternatur», so Rudolf Steiner, separiert und entfremdet von wesentlichen Bezügen zur Welt, insbesondere von der Natur, von den Mitmenschen und von der Sinndimension des Daseins, sodass dies sein eigenes Menschentum bedroht.
Körper wird zur Sache
So wie das moderne Leben der Industriearbeit und des Stadtlebens das Verhältnis zur Welt fundamental verändert hat, so verändert das Leben in der digitalen Lebenswelt das Verhältnis zum Eigensein, zum Leib auf fundamentale Weise, wenn sich das Bewusstsein nunmehr permanent in der Vorstellungswelt ohne Eigentätigkeit aufhalten kann.
Von der «Übernatur», der digitalen Lebenswelt aus erlebt, wird der eigene Körper zu einem Teil der Dingwelt: Ich bin dann nicht mehr derjenige, der sich die Welt anschaut und sich ein Bild von ihr macht, sondern ich selbst schaue mich in meiner Körperlichkeit von aussen an. Es gilt nicht mehr, wie im Morgenspruch der Waldorfschule: «Ich schaue in die Welt», sondern ich schaue auf mich. Ich forme ein Bild davon, wie mein Körper in der Welt erscheint – gerade so, wie ein anderer auf mich schaut.
Die Selfie- und TikTok-Kultur der Social-Media-Kanäle ist ein Symptom dieser Veränderung, durch die der eigene Körper zum Objekt wird. Die digitale Präsenz erzeugt einen Blick von aussen auf den Körper: eine technisch induzierte, permanente Rückschau auf mich selbst, durch die der Körper zum Kontroll- und Optimierungsobjekt wird.
Auch ist das Leben im digitalen Raum ein Leben in Möglichkeiten. Alles erscheint dort zu jedem Zeitpunkt möglich. Wenn ich aber immer alle Möglichkeiten zur Verfügung habe, entsteht keine Bindung und keine Konkretion. Es entsteht keine Biografie im wörtlichen Sinne: keine Einritzung, kein Sich-Einschreiben in den Text des Lebens. Dies lässt sich als platonischer Zustand beschreiben. Denn Platon wollte im Denken zurück bis zu dem Ort des Vorgeburtlichen, an dem die Ideen noch nicht durch die Erfahrungen des Körpers verfälscht sind. Biografie aber vollzieht sich in der Konkretion, indem ein Lebenstext entsteht, indem ich etwas ins Leben unumkehrbar einschreibe. So lässt sich das Leben im Digitalen als ein Zustand verstehen, der in einen vorgeburtlichen Zustand versetzt und von Erfahrungen fernhält, die sich uns einschreiben. (…)
Algorithmen halten Neues fern
Eine weitere Herausforderung der digitalen Lebenswelt ist die Beziehung zum anderen als einem einzigartigen anderen. Wenn wir uns nicht dagegenstemmen, befinden wir uns im Digitalen in einer «Filter Bubble», in der wir aufgrund der Algorithmen immer das angezeigt bekommen, was uns gefällt, was unserem Innen jetzt schon entspricht.
Jean Baudrillard bezeichnet das Digitale als eine «Hölle des Gleichen», weil wir dort eine Welt erfahren, die wir immer schon sind: das mir Gleiche – und nicht das andere. Damit ist die Persönlichkeitsbildung infrage gestellt, denn, mit Martin Buber oder Emmanuel Levinas gesprochen, das Eigene bildet sich erst dadurch, dass das andere des anderen erfahren wird.
So aufgefasst, wird die digitale Lebenswelt zur Herausforderung für zentrale Entwicklungen der Kindheit und Jugend: die Sinneswelt durch den Leib als Um- und Mitwelt zu erleben, den Vollzug des Lebens als Biografie zu ergreifen und die Möglichkeit, dem anderen als solchem zu begegnen.
Im Licht der Menschenkunde der Waldorfpädagogik beruhen diese Möglichkeiten auf Verselbständigung («Geburt») und eigentätigem Ergreifen von drei Aspekten des Leibs: des physischen Leibs, des Lebensleibs und des Seelenleibs. Insofern das Leben im Digitalen zum Primären wird, erscheint das Im-Leib-Sein in diesen drei Aspekten keine selbstverständliche, natürliche Entwicklung mehr, die pädagogisch begleitet werden möchte. Diese Geburten, die erlauben, Leib zu sein, in der Welt zu sein, werden vielmehr zu einer zu verantwortenden, kulturellen Aufgabe. Möglicherweise werden in den kommenden Jahrzehnten diese «Geburten» zum Gegenstand intensiver kultureller, ethischer, medizinischer und pädagogischer Auseinandersetzungen, wie es Zeugung, Schwangerschaft und Geburt im 20. Jahrhundert wurden.
Die Pädagogik sollte diese «Geburten» künftig als Aufgabe verstehen, sie ermöglichen und ihnen eine kulturelle, menschliche Form geben. (…)
Robin Schmidt