Die neue Studienausgabe vereinigt drei pädagogische Vortragsreihen, die Rudolf Steiner zwischen 1922 und 1924 in England gehalten hat, in einer neuen, kompakten und übersichtlichen Zusammenstellung. Sowohl erfahrene Lehrerinnen der Waldorfpädagogik wie auch Neueinsteiger können sich von diesen Vorträgen inspirieren lassen. Sie eignen sich für die Lehrerausbildung ebenso wie für die gemeinsame pädagogische Arbeit in Lehrerkonferenzen. Das Buch ist eine Zusammenarbeit des Bundes der Freien Waldorfschulen, des Rudolf Steiner Verlages und der Pädagogischen Sektion. Herausgeber ist Urs Dietler.

Zur Einführung
Die pädagogischen Kurse Rudolf Steiners in England fanden in den Jahren 1922, 1923 und 1924 auf Einladung von in Grossbritannien tätigen und anerkannten Pädagoginnen statt. Millicent Mackenzie (1863–1942), die erste Professorin in Wales, hatte Rudolf Steiner im Sommer 1921 bei einem Besuch in der Schweiz am Goetheanum kennengelernt und organisierte bald darauf die Teilnahme von vierzig Lehrerinnen und Lehrern aus Grossbritannien am ersten internationalen pädagogischen Hochschulkurs, der zu Weihnachten 1921 im Weissen Saal des Goetheanums veranstaltet wurde, in deutscher und englischer Sprache und besucht von über hundert interessierten Menschen, auch aus Skandinavien, den Niederlanden und Deutschland. Anschliessend lud Mackenzie Rudolf Steiner ein, nach Grossbritannien zu kommen, um seinen pädagogischen Impuls dort vorzustellen.
Bereits im April 1922 reiste Steiner zu einer Veranstaltung nach Stratford-upon-Avon; auf dem Weg dorthin besuchte er die Reformschule von Miss Margaret Cross in King’s Langley, unweit von London. Im August 1922 kam er dann nach Oxford für einen Kurs, an dem Professoren und pädagogische Seminarleiter, Lehrende und Studierende teilnahmen; die 14-tägige Holiday Conference fand im Manchester College und im Keble College der Universität statt. Eingeladen hatten Arnold Freeman, Direktor des Sheffield Educational Institute, und Millicent Mackenzie, die zu Beginn eine Grussbotschaft des britischen Erziehungsministers Herbert Fisher verlas. Der Rektor des Manchester College, Lawrence Pearsall Jacks, begrüsste die Teilnehmer und insbesondere Rudolf Steiner als Hauptredner. In vielen Zeitungsartikeln konnte man anschliessend von den neuen Erziehungsperspektiven lesen, die Rudolf Steiner in dem Kurs eröffnet hatte, und am Ende der Tagung wurde eine «Educational Union for the Realisation of Spiritual Values» gegründet, im Sinne einer zu schaffenden Vereinigung zur Einrichtung und Unterstützung von Schulen, in denen die Pädagogen frei und kooperativ im Sinne des Oxforder Kurses arbeiten sollten. Angestrebt wurde eine weltweite Arbeitsgemeinschaft für Erziehung – mit dieser Aussicht endete die Tagung im renommierten Oxford.
Ihr folgte im Sommer 1923 als weitere Holiday Conference der Kurs im nordenglischen Ilkley, organisiert von der Educational Union for the Realisation of Spiritual Values. Auch dort waren die Teilnehmenden Lehrer und Lehrerinnen, die während der zwei Tagungswochen eine neue Schulform und neue Unterrichtsformen kennenlernten, Formen, die sich am Erkenntnishorizont des Kindes, an seiner Entwicklung und zugleich an der Weltwirklichkeit orientierten, in die das Kind hineingeboren wird. Die sozial hochengagierte Frühpädagogin Margaret McMillan (1860–1931) präsidierte die Veranstaltung und eröffnete die Tagung.
Der letzte pädagogische Kurs, den Rudolf Steiner in England hielt, fand im August 1924 in Torquay statt. Die Initiative zu dieser «Second International Summer School» ging unter anderem von Daniel N. Dunlop aus, und der Kurs richtete sich an Lehrerinnen und Lehrer im Hinblick auf die mögliche Gründung einer Primarschule.
Gemeinsam ist den pädagogischen Kursen in England, dass Rudolf Steiner hier zu Menschen sprach, die täglich mit ganz konkreten Erziehungsfragen umgingen. Es waren Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen und Erzieher, Dozentinnen und Dozenten in der Ausbildung, aber auch Erziehungsverantwortliche im gesellschaftlichen Leben: ein Publikum, das Lehrerfahrung hatte und die pädagogischen Fragen aus der eigenen Arbeit kannte. In diesem Raum entwickelte Rudolf Steiner menschenkundliche Perspektiven für eine neue Pädagogik. Er konnte davon ausgehen, dass das Wesen und Werden des Kindes, des jungen Menschen, über das er sprach, für die meisten Teilnehmenden eine alltägliche Erfahrungswirklichkeit war. Anders als im Kurs, den er vor der Gründung der Stuttgarter Waldorfschule Ende August, Anfang September 1919 abgehalten hatte: Den sich in dieser kurzen Zeit ausbildenden Lehrerinnen und Lehrern war die Anthroposophie bekannt, nicht allen jedoch die Wirklichkeit des Klassenzimmers und der Schule – sie bereiteten sich daher vielmehr auf die Kinder vor, durch die sie zum ersten Mal ihrer neuen Aufgabe begegnen würden.
Rudolf Steiners Vorträge waren stets situativ auf die Menschen bezogen, zu denen und mit denen er sprach, so auch in England. Darin liegt bis heute ein grosser Wert dieser Vortragsreihen: Sie bilden eine Studiengrundlage für Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen und Erzieher, die den pädagogischen Impuls Steiners aus und in der eigenen praktischen Erfahrung kennenlernen wollen. Sie sind Fortbildungsveranstaltungen und entsprechen damit der heutigen Lebenswirklichkeit vieler Teilnehmerinnen und Teilnehmer an Kursen und Seminaren. In der Ausbildung, aber auch in der Kollegienarbeit können Steiners Ausführungen eine Grundlage sein. Die grosse pädagogische Aufgabe wird in den Vorträgen immer wieder neu beschrieben: das Kind, den jungen Menschen lesen lernen und gleichzeitig in der Gegenwart der Welt zu sein und zu leben. Eine Raum und Zeit verbundene und verbindende Aufgabe, die an jedem Ort und in jeder Umgebung von denjenigen, die in der Gegenwart der Kinder und Jugendlichen sind, eigenständig aufgegriffen und gestaltet werden muss.
Dass der Mensch «seinen Mitmenschen am besten nach seinen Kräften dienen kann», darauf ist die Pädagogik ausgerichtet, so Steiner am 17. August 1923 in Ilkley. Diese Orientierung eines gemeinsamen Lernens für eine gemeinsame Welt hat auch ein Jahrhundert später Bestand und stellt sich mehr und mehr als eine Grundforderung dar.
Es ist eine grosse Freude, dass der Rudolf Steiner Verlag die von der Forschungsstelle des Bundes der Freien Waldorfschulen in Deutschland und der Pädagogischen Sektion am Goetheanum vorgetragene Idee einer Studienausgabe sofort unterstützt und ermöglicht hat. Urs Dietler hat die mitstenografierten Vorträge durchgesehen und vorbereitende Notizen Rudolf Steiners sowie andere Dokumente zu den Vorträgen mit in den Band aufgenommen.
Die vorliegende Ausgabe zum 100. Todesjahr Rudolf Steiners kann ein fruchtbarer Beitrag einer Pädagogik sein, die sich im Laufe eines Jahrhunderts weltweit verbreitet hat und sich fortwährend im Verhältnis mit den Kindern und jungen Menschen erneuert.
Constanza Kaliks, Mai 2025