Bis etwa zum 9. Lebensjahr ist das Kind laut Rudolf Steiner noch nicht in der Lage ist, das «Welt- und Ich-Gefühl» klar auseinanderzuhalten. Das Kind sieht die Welt durch den Erziehenden, der «seelisch durchsichtig» ist. Das ändert sich nun. Hier ein Ausschnitt aus Steiners Vortragsreihe «Anthroposophische Pädagogik und ihre Voraussetzungen».
«Der heutige Menschenbeobachter sieht hin auf ein Kind, das sich an einer Ecke stösst und anfangt, diese Ecke zu schlagen. Da sagt der heutige Menschenbeobachter: Das Kind denkt sich den Tisch, an dem es sich gestossen hat, belebt – man redet kulturhistorisch von Animismus –, und weil das Kind voraussetzt, dass der Tisch belebt ist, schlägt es den Tisch. – Das ist nicht der Fall in Wirklichkeit. Wenn man in die Seele hineinschaut, findet man, dass das Kind nicht den Tisch belebt, auch das Lebendige nicht so belebt, wie man es in einem späteren Lebensalter beleben muss; sondern so wie das Kind in dem Arm und der Hand einfach Glieder seines Wesens sieht, so sieht es eine Fortsetzung seines eigenen Wesens in dem, was draussen geschieht.
Wenn plötzlich neue Fragen kommen
Das Kind unterscheidet noch nicht Welt und sich. Und so kommt es dann, dass man für, ich möchte sagen, das erste Drittel des Lebensalters zwischen Zahnwechsel und Geschlechtsreife durchaus im Unterrichten und Erziehen darauf bedacht sein muss, alles so an das Kind heranzubringen, märchenhaft, legendenhaft, dass das Kind in allem etwas sieht, was sich gar nicht unterscheidet von dem Eigensein, was durchaus nur eine Fortsetzung des eigenen Seins ist.
Dagegen ist gerade so zwischen dem 9. und 10. Lebensjahr ein wichtiger Entwickelungspunkt im Leben des Kindes. Dieser Entwickelungspunkt kommt für das eine Kind etwas früher, für das andere Kind etwas später; er ist von eminenter Wichtigkeit. Man wird bemerken, dass das Kind etwas unruhig wird, dass das Kind mit fragenden Augen – es kommt wirklich auf Dinge an, die man erfühlen muss — an die Erzieherautorität herankommt; dass das Kind Fragen stellt, die einen frappieren gegenüber demjenigen, was es früher gefragt oder nicht gefragt hat. Das Kind kommt in eine eigentümliche innerliche Lage.
Da handelt es sich vor allen Dingen darum, dass man nicht nur, ich möchte sagen, nach pedantisch-philiströser [kleinbürgerlicher] Art allerlei Ermahnungen an das Kind richtet, sondern dass man vor allen Dingen gefühlsmässig wirklich sich in das Kind hineinversetzen kann.
Es ist etwas im Unterbewussten – selbstverständlich im Unterbewussten, nicht so, dass das Kind deutlich sich vor sich selber aussprechen würde – in diesem Lebensalter beim Kinde eingetreten, das man so charakterisieren kann: Durch und durch war bisher Wahrheit, Güte, Schönheit für das Kind dasjenige, was die verehrte Erzieherautorität als wahr, gut und schön hinstellte. Das Kind ist selbstverständlich der Autorität hingegeben.
Woher hat er das?
In diesem Lebensaugenblick, so zwischen dem 9. und 10. Lebensjahr, kommt etwas über das Kind, wodurch es – nicht in Gedanken, es intellektualisiert noch nicht, aber in seinem Gefühl – die ganz unbestimmte, wie im Traum verlaufende Frage auf wirft: Ja, woher hat der Lehrer das, woher kommt ihm das; ist der Erzieher wirklich die Welt? – Bis dahin war er es; jetzt tritt das auf: Geht nicht die Welt noch über den Erzieher hinaus?
Während er früher seelisch durchsichtig war, und das Kind durch ihn in die Welt sah, wird er jetzt immer mehr und mehr undurchsichtig; das Kind fragt wie gefühlsmässig, warum etwas berechtigt ist. Da muss man durch die Art, wie man sich verhält, taktvoll das Richtige für das Kind finden. Es kommt nicht darauf an, dass man ein eingelerntes Wort zu sagen weiss, sondern dass man sich der Situation aus einem inneren Takt anzupassen weiss.
Wenn man so durch ein inneres imponderables [unberechenbares] Mitfühlen mit dem Kinde gerade in dieser Lebenszeit das Richtige findet, bedeutet das ein Ungeheures für die ganze Lebenszeit bis zum Tode hin, kann man sagen. In dieser inneren Lebenssituation im Lehrenden, im Erziehenden einen Menschen gefunden zu haben, von dem man das Gefühl hat: Der redet aus den Weltgeheimnissen heraus – das wird immer wertvoller und wertvoller.
Das gehört unbedingt zu dem Didaktischen und Methodischen. Auf diesen Zeitpunkt tritt für das Kind der Unterschied ein zwischen Welt und Ich.»
(Quelle: Rudolf Steiner: Anthroposophische Pädagogik und ihre Voraussetzungen, Vortrag vom 13. April 1924, Bern, GA 309)