Wenn das Kind um das 7. Lebensjahr die zweiten Zähne bekommt, findet laut Rudolf Steiner ein erster bedeutsamer Umwandlungsprozess statt. Denn mit dem Zahnwechsel hat sich das Kind «einen zweiten Leib» gebildet. Was das bedeutet, lesen Sie in diesem kleinen Ausschnitt aus Steiners Vortragsreihe «Anthroposophische Pädagogik und ihre Voraussetzungen».
«Schon der äussere physische Prozess dieses Zweite-Zähne-Bekommens ist ja interessant genug: wie sie da sind, die ersten Zähne, die anderen sich nachschieben, wie die ersten ausgestossen werden.
Solange man nur oberflächlich diesen Vorgang ansieht, kann man beim Zahnwechsel stehenbleiben. Wenn man aber tiefer hineinschaut mit den Mitteln, die gerade in diesem Kursus besprochen werden sollen, wird man gewahr, wie da, wenn auch in feinerer Weise als beim Zahnwechsel selber, in dieser Umwandlungsphase durch den ganzen Körper des Kindes etwas vorgeht. Dasjenige, was nur in gröbster, radikalster Weise im Zahnwechsel sich zeigt, das geht eigentlich im ganzen Körper vor sich.
Ein neu gebildeter Leib
Denn, was geschieht da eigentlich? Sie können ja alle sehen, wie eigentlich der menschliche Organismus sich entwickelt: Sie schneiden sich die Nägel, Sie schneiden die Haare, Sie finden, dass die Haut abschuppt. Das alles zeigt, dass an der Oberfläche physische Substanz abgestossen wird, und dass sie von innen heraus nachgeschoben wird. Dieses Nachschieben, das wir beim Zahnwechsel sehen, ist beim ganzen Menschenleib vorhanden.
Eine genauere Erkenntnis zeigt uns, dass in der Tat das Kind den Leib, den es durch Vererbung mitbekommen hat, jetzt nach und nach ausgetrieben hat, ausgestossen hat. So wie die ersten Zähne abgestossen sind, so ist der ganze erste Leib abgestossen. Und in der Epoche des Zahnwechsels steht das Kind vor uns mit einem gegenüber dem Geburtsleib völlig neugebildeten Leib. Der Geburtsleib ist wie die ersten Zähne abgestossen, ein neuer Leib ist gebildet.
Was ist da im Intimeren geschehen? Den ersten Leib, den das Kind erhalten hat, hat es aus der Vererbung erhalten. Er ist sozusagen das Produkt desjenigen, was durch das Zusammenwirken von Vater und Mutter geschehen ist. Er bildet sich aus den physischen Erdenverhältnissen heraus. Aber was ist er, dieser physische Leib? Er ist das Modell, das die Erde dem Menschen gibt für seine eigentliche menschliche Entwickelung. Denn das Seelisch-Geistige des Menschen, es steigt ja herunter aus einer seelisch-geistigen Welt, in der es war, bevor die Empfängnis und die Geburt eingetreten sind.
Wir alle waren, bevor wir Erdenmenschen geworden sind im physischen Leib, geistig-seelische Wesenheiten in einer geistig-seelischen Welt. Und dasjenige, was uns an physischer Vererbungssubstanz Vater und Mutter geben, das vereinigt sich im Embryonalleben mit demjenigen, was rein geistig-seelisch aus einer höheren Welt heruntersteigt.
Der geistig-seelische Mensch ergreift den physischen Leib, der aus der Vererbungsströmung herrührt. Der wird sein Modell, und nach diesem Modell wird jetzt ein völlig neuer menschlicher Organismus mit Abstossung des vererbten Organismus gebildet. So dass, wenn wir auf das Kind hinschauen zwischen der Geburt und dem Zahnwechsel, wir sagen müssen:
Da arbeitet sich hinein in den physischen Leib, der lediglich der physischen Vererbung sein Dasein verdankt, das Ergebnis des Zusammenwirkens dessen, was der Mensch mitbringt auf die Erde, mit demjenigen, was er an Stoffen und Substanzen von der Erde aufnimmt. Mit dem Zahnwechsel hat der Mensch nach dem Modell des vererbten Leibes einen zweiten Leib sich gebildet; und dieser zweite Leib ist das Produkt des seelisch-geistigen Wesens des Menschen. (...)
Man wird selbstverständlich sagen: Zeigt sich nicht in der Ähnlichkeit mit den Eltern, die oftmals nach dem Zahnwechsel auftritt, zeigt sich da nicht, wie der Mensch auch später, nach dem Zahnwechsel, den Gesetzen der Vererbung auch weiter unterliegt? – So könnte man vieles einwenden. Aber nehmen Sie nur das Folgende:
Wir haben ein Modell, das aus der Vererbungsströmung herrührt. Nach diesem Modell arbeiten jetzt Geist und Seele den zweiten Menschen aus. Da ja auch sonst nicht die Tendenz besteht, dasjenige, was nach einem Modell ausgearbeitet wird, just ganz unähnlich dem Modell auszugestalten, so ist es auch klar, dass das Geistig-Seelische die Anwesenheit des Modells dazu benützt, den zweiten menschlichen Organismus ähnlich zu gestalten. (...)
Der Mensch und das geistig-seelische Dasein
Es gibt Kinder, die zeigen in ihrem 9., 10., 11. Lebensjahr, wie fast ganz ähnlich ihr zweiter Organismus – denn ein zweiter Organismus ist eben da – dem ersten, vererbten, ist. Andere Kinder zeigen, wie unähnlich dieser zweite Organismus diesem ersten wird, wie etwas ganz anderes aus dem Zentrum des Menschenwesens heraus arbeitet, als vorerst vererbt war.
Alle Varianten zwischen diesen beiden Extremen treten auf im menschlichen Leben. Denn indem das Geistig-Seelische den zweiten Organismus ausarbeitet, will es vor allen Dingen der Wesenheit gehorchen, welche es mitbringt aus der geistig-seelischen Welt, wenn es heruntersteigt.
Es entsteht ein Kampf zwischen dem, was den zweiten Organismus herausarbeiten soll, und dem, was der erste Organismus aus der Vererbung bekommen hat. Je nachdem der Mensch stärker oder schwächer ist aus dem geistig-seelischen Dasein, desto mehr kann er seinem zweiten Organismus eine besonders durchseelte, individuelle Gestalt geben, oder aber, wenn er schwächer herabkommt, wird er sich möglichst genau an das Modell halten.»
(Quelle: Rudolf Steiner: Anthroposophische Pädagogik und ihre Voraussetzungen, Vortrag vom 13. April 1924, Bern, GA 309)