Arbeit und freies Spiel zur Vorbeugung der Habsucht; Schlichtheit und vielseitige Sinneswahrnehmung zur Erziehung des lebendigen Denkens; seelische Wärme und das Schaffen staunenerregender «Inseln» in Raum und Zeit. So viel wäre damit getan. Ein Beitrag von Philipp Reubke.
Im Juni 2023 lancierte die Zeitung «Le Monde» ein langfristiges journalistisches Projekt über Umweltzerstörung und Klimaerwärmung: «Extrem» – dies sei das einzig angemessene Wort um das Ausmass der Zerstörung und des Ungleichgewichts sowie die gewaltige Beschleunigung dieser Phänomene zu beschreiben.1 Die Menschheit und die Natur stünden an ihrer äussersten Grenze, unsere bisherige Lebensweise könne nicht mehr fortgesetzt werden, das Ende unserer Resourcen sei in Aussicht.2
Neu ist die Feststellung nicht. Schon 1972 gab das Massachusetts Institute of Technology (MIT) im Auftrag des Club of Rome die Studie «Grenzen des Wachstums» heraus.3 Wir kennen den Ernst der Lage, wir können und wollen aber nicht unsere zerstörerische Lebensweise ändern. Neu ist aber das Bewusstsein von den Ursachen des Übels in der menschlichen Seele. Der Redaktions-Leiter von «Le Monde» sagt das nicht ganz so direkt, aber fast: «Habsucht» und «Zynismus», seien die fatalen Neigungen des modernen Menschen4, es ginge darum, unser Verhältnis zum Lebendigen neu zu denken5, nicht nur unsere Lebensgebiete, sondern auch unsere Weltanschauung müssten weiter entwickelt werden.6
Wer anerkennt, dass menschliches Wollen, Fühlen und Denken für die Umweltkatastrophe verantwortlich sind, ist nicht mehr weit von der Einsicht, dass durch Erziehung ein Beitrag geleistet werden kann für ein gesünderes Verhältnis von Mensch, Erde und Kosmos. Eine «spirituelle Ökologie» sucht nicht nur nach neuen Techniken zur Energiegewinnung oder Einsparung, sondern versucht die Wurzel der Klimakrise in Geist und Seele des Menschen anzupacken.
Der «Haager Kreis – Internationale Konferenz für Steiner Waldorf Pädagogik» hat das Thema im November 2023 aufgegriffen. Was kann durch Erziehung und Unterricht getan werden, um Habsucht und Zynismus entgegenzuwirken, um das Lebendige und unser Verhältnis zu ihm denken zu lernen? Im Folgenden werden einige Vorschläge für die Vorschulerziehung gebracht.
Freies Spiel als Erziehung zur «Spirituellen Ökologie»
Das kleine Kind hat gegenüber Erwachsenen den besonderen Vorteil, dass seine Lust nach körperlicher Bewegung und Tätigkeit wesentlich höher ist. Lieber Laufen und Springen als Sitzen, lieber Anfassen, Ausprobieren, Bauen und Kaputtmachen als Nachdenken. Wenn dieser Tätigkeitsdrang pädagogisch unterstützt wird, erlebt das Kind täglich die intensive Freude am Selber-Machen. Dann rückt nicht mehr der Besitz von faszinierenden Objekten in den Vordergrund, sondern die Befriedigung, selber durch eigene Initiative etwas zu Stande gebracht zu haben. Nicht die Erklärung, dass es besser ist, mit anderen etwas zu teilen, sondern das tägliche Erlebnis im freien Spiel, dass Tyrannei und Habsucht zu Einsamkeit führen und Kooperation mehr Freude bringt.
Natürlich ist das für die Erwachsenen gelegentlich unbequem und langwierig. Die Tendenz zu Kratzen und Hauen, weil man etwas haben will, was der andere gerade hat, hört bei kleinen Kindern nicht von heute auf morgen auf und braucht Zeit für Verwandlung in positive Energie. Und dann kommt noch die für Erwachsene weitere schwierige Aufgabe hinzu, die intellektuelle Bequemlichkeit zu überwinden und selber eine überkochende Lust auf praktische Tätigkeit zu entfalten. Wir wissen, dass kleine Kinder sehr viel durch Nachahmung lernen. Eine Erzieherin, die den Garten umgräbt, den Komposthaufen pflegt und Vogelhäuser baut, ein Erzieher, der Tischpuppen herstellt, Puppenkleider näht, Fenster putzt und Suppen kocht hat mehr zur Erziehung zur spirituellen Ökologie getan als jemand, der die Vierjährigen zur Mülltrennung ermahnt.
Lieber tun, als besitzen, – sich freuen an dem, was man kann, und nicht so sehr an dem, was man hat,– zufrieden sein, mit dem was man ist, und weniger Wert darauf legen, wie man erscheint: diese Werte lassen sich in der frühen Kindheit besonders gut kultivieren durch eine Pädagogik, die freies Spiel für das Kind und praktische Arbeit in den Vordergrund stellt.
Vorbeugung gegen Zynismus
Auch in Bezug auf die Intensität der Gefühle und Emotionen ist das kleine Kind dem Erwachsenen überlegen: schon ein Gänseblümchen und eine Weinbergschnecke können Kinder in helles Entzücken versetzen. Doch ohne pädagogische Achtsamkeit geht das Staunen und die Bewunderung auch bei kleinen Kindern schnell verloren. Was Gefühlstiefe fördert ist z. B. Einfachheit: eine Menge sensationeller Objekte stumpft die Aufmerksamkeit und die Freude ab, wenige einfache Objekte, die auch von den Erwachsenen wert geschätzt und gut behandelt werden fördert sie. Auch Langsamkeit und langfristige Vorbereitung ist hilfreich: Überraschungen und Feste, besondere Ereignisse, die lange geplant und mit den Kindern praktisch vorbereitet werden steigern die Erwartung, die innere Beteilung und die Emotionen der Kinder. So wie das Geschenkpapier den Wert des Geschenks in unseren Augen erhöht, so steigert eine gemächliche Vorbereitung von Festen und sozialen Ereignissen die Freude.
Gewöhnlich meinen wir, dass starke Gefühle vor allen Dingen durch Schnelligkeit, starke Sinneseindrücke und Sensationen erzeugt werden. Bei Erwachsenen mag das teilweise zutreffen, bei Kindern bewirkt es Abstumpfung der Gefühle und Unfähigkeit, eine durch starke Gefühle getragene Beziehung zur natürlichen Umgebung aufzubauen. Die brauchen wir aber für einen grundsätzlichen anderen Umgang mit der Natur. Ohne Freude, Wertschätzung und Staunen über Bienen und Gletscher werden wir nicht einmal durch ihr Verschwinden betroffen.
Wiederum verlangt diese Art der ökologischen Früherziehung eine besondere Anstrengung von uns Erwachsenen: Freude am Kleinen und Schlichten und die Fähigkeit, auch in der Langsamkeit durch eigene seelische Aktivität die spannenden und interessanten Seiten des Lebens zu entdecken. Und seelische Wärme, die wir brauchen, um besondere Orte und besondere Festzeiten zu gestalten.
Das lebendige Denken lernen
Lebendige Organismen sind so anders als Maschinen. Sie haben keine miteinander identischen Einzelteile. Um sie kennenzulernen, müssen wir jede Einzelheit und das Ganze erst sorgfältig beobachten. Um eine Chance zu haben, ihre komplexe Beziehung eventuell eines Tages zu entdecken, müssen wir uns einlassen auf das, was man sehen, hören, riechen und schmecken kann. Ein weiteres Problem: der ganze Organismus verwandelt sich ständig, wächst und vergeht.
Das, was wir zu einem bestimmten Zeitpunkt wahrnehmen, ist nur ein Teilaspekt. Die vielen anderen Aspekte und Erscheinungsformen waren in der Vergangenheit oder werden in der Zukunft sinnlich wahrnehmbar sein, das Ganze oder das Wesen des Organismus bleibt unsichtbar und kann nur durch eigene, kognitive Aktivität erschlossen werden.
Diese beiden Zugänge zum Lebendigen – ein leiblicher Zugang, durch intensive, liebevolle Wahrnehmung, – und ein seelischer Zugang, Erinnerung vergangener und Antizipation kommender Zustände, Aufbau eines kognitiven Bildes, das nicht wahrnehmbar ist – können auch in der Früherziehung intensiv kultiviert werden.
Wie beim Wollen und Fühlen sind uns die Kinder voraus. Wir müssen ihnen nur helfen, ihre Fähigkeiten nicht zu verlieren. Gibt es genügend zu sehen, zu betasten, zu hören und zu riechen? Gehen wir genügend in den Garten in den Wald oder wenn das nicht möglich ist, holen wir genügend verschiedene, merkwürdige, ganz unterschiedliche Objekte in den Gruppenraum?
Das Bauspiel Kapla und immer dieselben Holzautos helfen da nicht weiter, aber gefundene oder selbst bearbeitete, jeweils ganz anders geformte Objekte unterstützen differenzierte, und intensive Wahrnehmungsfähigkeit. Wie wirken wir der bei den meisten Kindern verbreiteten Tendenz entgegen, alles sofort zu analysieren, zu kommentieren und zu erklären, anstatt zu beobachten und zu erleben?
Zunächst dadurch, dass wir selber tief in Wahrnehmung und Erlebnis eintauchen und mit der seelischen Nachahmungsfähigkeit der Kinder rechnen. Dann aber unbedingt heute eher mehr als weniger organisches Spielmaterial, einen abwechslungsreichen bunten Jahreszeitentisch auf dem es viel zu sehen gibt und der sich oft ändert, und wenn immer möglich einen Garten, der nicht nur ästhetisch schön ist, sondern wo neben Blumenbeeten auch alle möglichen anderen Gewächse, Wasser, Erde, Holz, Stroh, Steine usw. das Spiel und somit die Wahrnehmungsfähigkeit anregen. Wenn dort auch Kleintierhaltung stattfindet wie in einigen Kindergärten Norwegens, und wenn von Zeit zu Zeit ein Feuer gemacht werden darf, ist das auch ein effizientes Mittel der Erziehung eines Denkens, das das Lebendige zu begreifen vermag.
Der seelische Zugang zum Lebendigen kann besonders gefördert werden durch einfaches Spielmaterial und einfache Spielfiguren: Die Taschentuchpuppe und die Figur aus Kork, Tannenzapfen, Draht oder Filz sind unfertig, unscheinbar – sie werden erst zu interessantem Spielmaterial durch die Vorstellungsaktivität des Kindes. Die Wirklichkeit ist nicht von vorneherein gegeben, sondern wird erst zugänglich durch seelische Aktivität und Beteiligung – das, was für unser Verständnis des Lebendigen notwendig ist, wird besonders gut vorbereitet durch Spielmaterial, das die Umwelt und das Klima am wenigsten belastet: durch das, was man in der Natur sowieso findet, oder Material, das man für das tägliche Leben benützt hat und das einfach zum Spielobjekt umfunktioniert wird.
Weniger Ästhetik, mehr Arbeit und Dankbarkeit
Eine gewisse Tradition der Waldorfkindergärten legt vor allen Wert auf die ästhetisch-schöne Umgebung. Zur Erziehung zur spirituellen Ökologie muss sie aber in den Hintergrund rücken. Was hierfür vor allen Dingen wichtig ist: Arbeit und freies Spiel zur Vorbeugung der Habsucht, Schlichtheit und vielseitige Sinneswahrnehmung zur Erziehung des lebendigen Denkens, seelische Wärme und Schaffen staunenerregender «Inseln» in Raum und Zeit (nicht aber ein immer und überall gleichbleibender ästhetischer Raum).
Das vielleicht allerstärkste Mittel zur Erziehung zur «spirituellen Ökologie» ist aber völlig unsichtbar und weder in pädagogischen Projekten noch in der Raum – oder Festgestaltung darstellbar. Es hängt zusammen mit Gefühlen und Gedanken über unser Verhältnis zur Welt und zum Schicksal. Kultiviere ich in meinem inneren Garten das Gefühl der Dankbarkeit für die Umgebung, die mir mein Leben ermöglicht – die Pflanzen, die Tiere, die Sonne, den Regen, die Kolleginnen und Kollegen, die Eltern und Kinder – dann nehmen auch die Kinder dieses Gefühl wahr, das durch mein Gesicht, meine Gebärden und meine Schritte hindurchscheint. Und auch das werden sie nachahmen – die Neigung, unsere Lebensgrundlage, die Natur und die soziale Umgebung, zu pflegen anstatt sie zu zerstören.
Philipp Reubke
Der vorliegende Text ist eine Zusammenfassung eines Beitrages, den der Autor bei der Sitzung des «Haager Kreis – Internationale Konferenz für Steiner Waldorf Pädagogik» im November 2023 gehalten hat.
Referenzen
1: «Extrem» ist das Wort, das sich nicht nur aufdrängt, um die Schwere der Schäden, das Ausmass der Störungen und die Gewalt der Beschleunigung zu beschreiben. «Le Monde», 16. Juni 2023, Artikel von Jerôme Fenoglio.
2: «Dieser Wandel bringt unsere Spezies und die Natur an ihre letzten Grenzen, weil er uns an den Rand unserer Lebensweise und unserer Ressourcen bringt, weil er uns an den Rand der Widersprüche unserer konsumorientierten Wirtschaft treibt.»
3: «The Limits to Growth» («Die Grenzen des Wachstums»)
4: «... uns nicht mehr von den beiden fatalen Abhängen unserer Moderne, der Gier und dem Zynismus, mitreissen lassen...»
5: «... die Art und Weise, wie wir unsere Beziehungen zu den Lebewesen gestalten...»
6: «... unsere Territorien und unsere Weltanschauung weiterentwickeln...»