«Widersteht den angstvollen Schwächeanfällen, Bewegtes anzuhalten, Augenblicke zu versteinern und Lebendiges zu töten!» Während Kinder besondere Freude an Bewegtem und Bewegung haben, ist das bei Erwachsenen nicht unbedingt der Fall. Die Bemühung um innere Beweglichkeit ist eine mehr oder weniger beliebte lebenslange Aufgabe. In seinem neustem Beitrag legt Philipp Reubke den Blick auf die Pädagogische Konferenz, die eine solche Weiterentwicklung unterstützen kann.
«Es bewegt sich alles, Stillstand gibt es nicht. Lasst Euch nicht von überlebten Zeitbegriffen beherrschen. (…) Hört auf, der Veränderlichkeit zu widerstehen. (…) Widersteht den angstvollen Schwächeanfällen, Bewegtes anzuhalten, Augenblicke zu versteinern und Lebendiges zu töten. (…) Hört auf, die Zeit zu malen. Lasst es sein, Kathedralen und Pyramiden zu bauen, die zerbröckeln, wie Zuckerwerk. Seid frei, lebt! (…) Atmet tief, lebt im Jetzt, lebt auf und in der Zeit.»
Am 14. März 1959 flatterten Papiere vom Himmel auf Düsseldorfer Vorstädte auf dem diese Worte zu lesen waren. Der Schweizer Künstler Jean Tinguely hatte sie aus einem kleinen Flugzeug geworfen.1
Wer nach Basel kommt, kann im Tinguely-Museum das «Statik Statement von 1959» nachlesen und die Skulpturen des Künstlers bewundern. Man ist aber in der unbequemen Lage, dass man bei der Betrachtung gestört wird. Die Skulpturen bewegen sich fortwährend, drehen sich, verändern ihre Form: laut lärmende Maschinen, die grob aus Schrott und Alteisen zusammengeschweisst wurden.
Alles, was wir erleben, sehen wir auch aus dem Blickwinkel unserer vergangenen Erlebnisse. Und so überkamen mich als ehemaliger Lehrer und Erzieher beim Betrachten eines quietschenden Monsters mancherlei pädagogische Erinnerungen. Skurrile Bewegungen, die Aufmerksamkeit erregen, ein überraschendes Verhalten, das Beobachten und Verstehen schwierig macht, eine andauernde Veränderung der Erscheinungsform, die das Ganze rätselhaft erscheinen lässt: wie hängt wohl die jetzige Erscheinung mit der früheren zusammen? Was wird da in Zukunft sich noch zeigen?
Die kinetische Kunst Tinguelys provoziert mich als Betrachter. So gerne hätte ich, dass die Skulptur ruhig dasteht und sich einfach überschauen lässt. Ihre chaotische Bewegung und unangenehme Ausdrucksform stellen uns vor die Wahl: entweder weggehen oder eine gesteigerte Auffassungsgabe entwickeln. Wage ich innere Beweglichkeit? Bin ich bereit, gestört oder überrascht zu werden? Kann ich mal weniger darauf achten, was mir angenehm oder unangenehm ist, sondern einfach hinschauen? Raffe ich mich auf, komplexe Zusammenhänge zu denken?
«Hört auf, der Veränderlichkeit zu widerstehen. (…) Widersteht den angstvollen Schwächeanfällen, Bewegtes anzuhalten, Augenblicke zu versteinern und Lebendiges zu töten.»
Als ich ins Museum kam, schien es mir, die Maschinenskulptur sei das Problem. Jetzt merke ich: ich bin das Problem. Sobald ich aufhöre, «der Veränderlichkeit zu widerstehen», sobald ich die Schwäche überwinde «Bewegtes anzuhalten und Augenblicke zu versteinern», wird es interessant.
Oft dachte ich, die Schüler seien das Problem. Jetzt denke ich: ich bin das Problem. Ich bin viel zu bequem, tatsächlich auf das Kind einzugehen. Schwache Beobachtungsgabe, fehlende Empathie und Sensibilität, feste Vorstellungen, schnelles Urteilen und rigide Begriffe. Das Kind lebt in einer grossen Entwicklungsdynamik, je kleiner es ist, je stärker und lebendiger ist die Dynamik. Da ist es doch eigentlich offensichtlich, dass alle Entwicklungsbegleiter des Kindes (Eltern, Erziehende, Lehrpersonen und alle anderen) sich den Text, den Tinguely aus dem Sportflugzeug geworfen hat, als wichtige Inspirationsquelle zu Herzen nehmen: Tun wir etwas gegen unsere mentale Unbeweglichkeit, lernen wir, Bewegung zu beobachten, zu fühlen, zu denken, überwinden wir unser Kleben an eigenen Sympathien und Antipathien, nehmen wir nicht so wichtig, ob dieses oder jenes Verhalten eines Kindes uns unangenehm ist, lernen wir Freude daran zu haben, wenn das Kind uns Probleme, Überraschungen und Rätsel mitgibt, und vor allen Dingen: überwinden wir das Gefühl, dass so wie das Kind und ich und die Welt heute sind, dass sie immer so schon waren und immer sein werden.
Diese Tendenz, die Tinguely als innere Schwäche entlarvt, die «den Augenblick versteinert», ist unser grösstes pädagogisches Problem. Sie macht, dass wir die Erscheinung von heute mit dem Wesen des Kindes verwechseln. Mache ich ein Foto von einer bewegten Skulptur, ist es ja klar, dass ich sie dadurch nur sehr einseitig erfasst habe. Aber wenn ich das Kind, das mir heute die Ohren vollbrüllt und beim Kopfrechnen nicht mitkommt, nur mit dieser heutigen Erscheinung identifiziere und ihr eine grosse Wichtigkeit einräume, fühlt sich das Kind nicht besser verstanden als der Künstler durch das Foto seiner bewegten Skulptur.2 «Hört auf, die Zeit zu malen.»
Das Wesen zeigt sich nur in unendlich vielen vergangenen, zukünftigen vergänglichen Formen, die nicht gleichzeitig da sind. Aber das heisst nicht, dass das Wesen des Kindes uns völlig unzugänglich ist. Wenn ich intensiv fühlen lerne, dass es im Laufe der Zeit noch sehr viel Überraschendes an den Tag legen wird, dass es schon viel Umwälzendes erlebt hat, wenn ich gelernt habe, empathisch zu beobachten, wenn ich vielerlei anthropogische und psychologische Begriffe durchdacht habe: dann lerne ich das Bild meiner heutigen Begegnung als Zeichen zu lesen, durch das ich etwas von der zukünftigen Entwicklung dieser Persönlichkeit ahnen kann. Von ihrer Grösse, ihrer Würde.
Oft denken wir: die komplexen, schwierigen Lebensumstände, die Zivilisationstechniken, die Eltern seien das Problem. Und in der Tat: die erfahrensten Kolleginnen und Kollegen haben Fragen über Fragen. Welche Methoden, welche Inhalte können diesem oder jenem rätselhaften Kind bei seiner Entwicklung helfen? Und ganz ohne Zweifel ist die Lage vieler Kinder dramatisch, gezeichnet durch traumatische Erlebnisse, sowie körperliche oder seelische Entwicklungsschwierigkeiten.3
Aber so wie im Tinguely Museum bleibt einem doch keine andere Wahl: entweder weggehen (was ja leider immer häufiger vorkommt und in vielen Ländern zu grossem Erzieher- und Lehrermangel führt) oder die eigenen «angstvollen Schwächeanfälle» zu metamorphosieren und sich fähiger machen, ein Denken, Fühlen und Wollen zu kultivieren, das auf das quicklebendige, sich entwickelnde Kind in einer rasant sich verändernden Zeit eingehen kann.
Gute Nachricht: in einer Steiner oder Waldorfschule bin ich nicht allein mit dieser anspruchsvollen Aufgabe. Da gehört seit über hundert Jahren (so Rudolf Steiners ursprünglicher Vorschlag) eine wöchentliche Fortbildungs- Übungs- und Unterstützungsveranstaltung zur bezahlten Arbeitszeit dazu.4 Kraft durch Teambildung. Freude durch gemeinsame Versuche, zu rätselhaften Kindern eine Beziehung aufzubauen. Beobachtungs-, Denk- und Empathiefähigkeit gemeinsam schulen. Kindliche Entwicklung allgemein und am individuellen Kind gemeinsam studieren.
Steiner war wie Tinguely der Auffassung, dass es uns ausserordentlich schwerfällt, sich entwickelnde, sich verändernde lebendige Wesen zu verstehen und eine Beziehung zu ihnen aufzubauen:
«Der Mensch liebt heute, wenn man sich etwas paradox ausdrücken darf, in seinen Begriffen das Bequeme. Es ist so, dass dieses Hinneigen zum starren Begriff, zu dem Begriff, der in scharfen Konturen gefasst werden kann, nur auf das Tote anwendbar ist, das sich nicht rührt und daher den Begriff starr sein lässt.»5
Eigentlich war die Pädagogische Konferenz dafür gedacht, diese Tendenz zur Starrheit in unserem intellektuellen und psychischen Leben zu überwinden. Kreativ die Erziehungspraxis im Einklang mit der Zeit und mit dem lokalen Kontext weiterzuentwickeln.6 Selbst weiterlernen und sich weiterentwickeln, da wir doch Lern- und Entwicklungsbegleiter für Kinder und Jugendliche sein wollen.
Da, wo die wöchentlichen Konferenzen nur für Schulverwaltung und Organisation verwendet wird oder da, wo sie aus Überlastung überhaupt nicht mehr stattfindet, wird diese Chance vertan. Dann bleibt nur noch die Möglichkeit, dass was wir immer schon gemacht haben weiter so zu machen. Und das ist in der Regel ermüdend.
Herausfordernde Kinder und die heutige Zeit mit ihren vielerlei Krisen kann uns hoffentlich den Anstoss geben, dieses wesentliche Merkmal einer Waldorfeinrichtung dynamischer zu realisieren: eine erfrischende wöchentliche pädagogische Veranstaltung, die allen Beteiligten und der ganzen Schule hilft, aus Problemen zu lernen und sich weiterzuentwickeln.
Philipp Reubke
Literaturverzeichnis
1: Biografie von Jean Tinguely laut Webseite des Tinguely Museums
2: In Frankreich haben im September 6.4 Millionen Kinder von der 1. bis zur 6. Klasse standardisierte Tests gemacht deren Ergebnisse zentral gesammelt werden. «Une photographie de la réussite des élèves ou de leurs difficultés», ein Foto der Lernerfolge und Schwierigkeiten der Kinder, betont die Ministerialbeamtin. Die Mehrheit der Lehrpersonen ist gegen die Tests. Im Namen einer «wissenschaftlichen Pädagogik» hält das Ministerium aber daran fest. Quelle: Le Monde, Ausgabe 26.9.2024
3: In der französischen Wochenschrift «La vie» ist in der Ausgabe vom 17. September 2024 zu lesen: «Innerhalb von 40 Jahren haben Kinder aufgrund chronischer Bewegungsarmut 25% ihrer kardiovaskulären Fähigkeiten verloren. In ihrer Sprechstunde sieht Sabine Duflo Kleinkinder, „die Mühe haben, sich aufrecht auf ihrem Stuhl zu halten, Schmerzen wie kleine alte Leute haben und aufgrund mangelnder körperlicher Aktivität schlecht schlafen und tagsüber schläfrig werden.»
4: «Es taugt nur das, was man wirklich durch die Beobachtung eines jeden Tages aus der Klasse herausträgt. Und deshalb ist das Herz der Waldorfschule, wenn ich von ihrer Organisation spreche, die Lehrerkonferenz.» Rudolf Steiner.- Die gesitig seelischen Grundkräfte der Erziehungskunst.- (GA 308) , Vortrag 23.8.1922
5: Rudolf Steiner.- Erdenwissen und Himmelserkenntnis.- (GA 221). Vortrag 18.2.1923
6: Siehe z.B. «Wege zur Kreativität in der Pädagogik», Anregungen für die pädagogische Ausbildung, herausgegeben von der Pädagogischen Sektion am Goetheanum