Am 29. März 2025 sprach Linda Williams aus den USA im Rahmen der Tagung zum 100. Todestag von Rudolf Steiner am Goetheanum über ihre Beziehung zu Rudolf Steiner. Lesen Sie hier ihren Vortrag, der in «Anthroposophie weltweit» erschienen ist.
Ich wurde gebeten, aus Anlass des 100. Todestags von Rudolf Steiner über meine Beziehung zu ihm zu sprechen. Ich habe einen Brief an meinen «Bruder Dr. Steiner» geschrieben, der hier in «Anthroposophie weltweit» in von mir gekürzter Fassung wiedergegeben wird.
Mein lieber Bruder Dr. Steiner
Als ich gefragt wurde, ob ich anlässlich des 100. Jahrestages deines physischen Ablebens von dieser Erde ein paar Worte sagen würde, fühlte ich mich geehrt und war dankbar für die Möglichkeit, über den Einfluss nachzudenken, den du auf mein Leben und das so vieler anderer hattest, insbesondere in Nordamerika, wo ich zu Hause bin.
Wie kommt eine afroamerikanische Frau aus dem industrialisierten mittleren Westen der USA in Kontakt zu einem österreichischen spirituellen Lehrer, der 33 Jahre vor ihrer Geburt die Erde verliess? Ich staune, wenn ich über die Lebenswege nachdenke, die uns miteinander verbinden.
Urgrosseltern waren Zeitgenossen Rudolf Steiners
Bruder Steiner, für die Zeit deiner letzten Geburt 1861 in Donji Kraljevec, einem kleinen Dorf im untergehenden österreichisch-ungarischen Reich (im heutigen Kroatien), finde ich folgende Entwicklungen in meinem karmischen Erbstrom. Mein Urgrossvater mütterlicherseits, Henry, war sieben Jahre alt, als du geboren wurdest, nachdem er kurz zuvor aus der Sklaverei im Süden in die Freiheit im Norden nach Detroit gekommen war. Später heiratete er Josephine, die einer Verbindung aus frei geborenen Schwarzen und Indigenen der Nehantic Nation angehörte und deren Familie nach Detroit eingewandert war. Als deine Zeitgenossen, Bruder Steiner, gründeten Henry und Josephine eine Familie, die sich in einer Welt voller Konflikte und Leid für Freiheit, Gemeinschaft und die Anerkennung des Geistes einsetzte.
Andere familiäre und karmische Verbindungen führten in meiner Kindheit zu einer Sehnsucht, die in mir auch noch als junge Erwachsene lebte: den Wunsch, mehr zu verstehen als das, was sich mir durch die Sinneswahrnehmung und das Denken zeigte. Bruder Steiner, ich habe später erfahren, dass du für mich dieses Gefühl im ersten Leitsatz (GA 26) beschrieben hast: «Anthroposophen können daher nur Menschen sein, die gewisse Fragen über das Wesen des Menschen und die Welt so als Notwendigkeit empfinden, wie man Hunger und Durst empfindet.»
Und es waren Hunger und Durst, die ich durch die verschiedenen spirituellen und kulturellen Zugänge der 1960er- und 1970er-Jahre in den USA und der Welt zu stillen suchte, in dem ich zu ergründen versuchte, was es bedeutet, ein spiritueller Mensch auf Erden zu sein.
Erleben Rudolf Steiners in Gemeinschaften
Als ich als junge Frau am College studierte, ging einer meiner jüngeren Cousins in die vierte Klasse der Detroiter Waldorfschule. Ich verfolgte seine Entwicklung, während ich in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderungen arbeitete. Mir schien, dass die Pädagogik, die ich in der Detroiter Waldorfschule kennenlernte, ein Weg war, sowohl Kindern als auch meinen anderen Betreuten zu helfen.
Ich entdeckte in der Nähe eine Waldorfausbildung am Waldorf Institut (später Sunbridge College). Hier lernte ich Sie, Dr. Steiner, kennen, als 30 andere Studierende und ich uns gemeinsam auf eine geistige Suche begaben. Neben der Lektüre der anthroposophischen Grundlagenwerke lernte ich, Wolle zu spinnen und zu stricken, behutsam mit Wasserfarben zu malen, Ton zu modellieren, mich eurythmisch zu bewegen und Märchen zuzuhören.
Ich begegnete vielen weisen Lehrern und Lehrerinnen, die sich mit deinem Werk in Berufsfeldern wie Kunst, Medizin, Religion, Heilpädagogik Landwirtschaft, Wissenschaft und Alchemie beschäftigt hatten.
Du wurdest für mich zum Bruder Steiner, weil du so sehr Teil der Gemeinschaft dort im Institut warst. Diese Seelenkonstellation liess mich dich ganz erleben und erlaubte mir, mich mit dir zu verbinden, sowohl als einem Mitsuchenden als auch als Gesprächspartner und Ratgeber. Du warst und bleibst für mich zugänglich, auch wenn das Gelesene mir nicht immer direkt verständlich war. Je weniger selbstverständlich du für mich warst – das heisst, je mehr ich mich mit deiner Arbeit beschäftigte –, desto mehr musste ich selbst meditieren und nachdenken.
In Mitsuchenden Rudolf Steiner begegnet Du warst an meiner Seite, Bruder Steiner, und ich habe gelernt zu unterrichten – vor allem, weil ich durch die Anthroposophie das Lernen lernte. Als mein Neffe mit Down Syndrom geboren wurde und die Camphill-Einrichtung Beaver Run besuchen durfte, hast du mir durch unsere anthroposophische Gemeinschaft gezeigt, wie man sich um die Verwundbarsten unter uns kümmert. Als liebe Menschen die Schwelle überschritten, hast du mich gelehrt, mit ihnen in Beziehung zu bleiben.
Durch Studiengruppen, künstlerische Arbeit und mein meditatives Leben blieb ich im Gespräch mit dir, und du brachtest mich ins Gespräch mit der göttlichen Sophia und dem kosmischen Christus. Und als ich weiter studierte und mich der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft und ihrer Pädagogischen Sektion anschloss, begegnete ich dir wieder durch Mitsuchende.
Bruder Steiner, ich hoffe, dass meine Worte meine unermessliche Dankbarkeit für alles, was du auf deiner letzten Lebensreise auf Erden aufbauen konntest, und vor allem für die Gemeinschaft, die du inspiriert hast und mit der du verbunden bleibst, zum Ausdruck gebracht haben. Ich danke dir für deinen unermüdlichen Einsatz, deine Entschlossenheit und deine Freude.
Herzlich
Deine Schwester Linda
Aus dem Englischen von Sebastian Jüngel
Linda Williams, geboren 1958 in Detroit (US), ist eine kürzlich pensionierte Waldorflehrerin und promovierte in Alphabetisierung (literacy education). Sie ist Mentorin für Lehrerinnen und Lehrer und arbeitet in nationalen und internationalen Waldorfgremien mit.
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