Erst duch die mathematische Sprache ist es möglich geworden, Phänomene in ein Verhältnis zu setzen, in für das Verstehen nachvollziehbare Beziehungen, in messbare, aufeinander präzise geordnete Beziehungen. Es ist die einzige Sprache, die sich selbst transparent macht, um die Beziehung von Vorgängen sichtbar werden zu lassen. Ein Beitrag von Constanza Kaliks, einer passionierten Mathematiklehrerin.
In dem Kurs, den Rudolf Steiner im Sommer 1923 in Ilkley gehalten hat, beginnt er den ersten Vortrag mit drei Perspektiven, die für seinen pädagogischen Impuls grundlegend waren und die in ihrer heutigen Aktualität erstaunen: die Gleichberechtigung von Frau und Mann als Bedingung für die Schule, die Tatsache, dass die 1919 gegründete Schule für Kinder aus Arbeiterfamilien, für proletarische Kinder gedacht war – eine «aus dem Proletariat herausgebildete Menschheitsschule»1 – und die Anthroposophie als Erkenntnisperspektive.
Gleichberechtigung, soziale Verantwortung und Erkenntnisorientierung als Bedingungen pädagogischen Handelns:
«So dass hier die Tatsache vorliegt, dass aus einer sozialen Wurzel heraus allerdings das pädagogische Gebilde herausgekommen ist, das in Bezug auf den ganzen Unterrichtsgeist, auf seine ganze Unterrichtsmethode seine Wurzel in der Anthroposophie sucht.»2
Die Methodik einer lebendigen Wissenschaft, die den Menschen in seinem Werden zu erkennen sucht, die Erziehung als sittliche, freie Tat: Viele zentrale pädagogische und menschenkundliche Themen werden von Rudolf Steiner angesprochen.
Besonders hervorzuheben ist, was dann in vielen Schulen aufgegriffen wurde und wird – der Beginn des Rechenunterrichts. Es mag erstaunen, was Steiner in einfacher Weise als methodischen Zugang zu den vier Grundrechenarten aufzeigt. Es kann als eine Variation über die traditionellen Formen des Rechnens verstanden werden – als eine sicherlich wertvolle Übung im Umdenken. Blickt man aber auf den paradigmatischen Charakter des Kurses selbst, auf den Versuch, neue menschenkundliche Perspektiven für eine Pädagogik der Jetztzeit zu setzen, so gewinnt diese Übung im «anderen Rechnen» eine geradezu erschütternde Dimension. Erschütternd in dem Sinne, dass dem kleinen Kind, in den allerersten Anfängen des Lernens, die Grösse dieses Lernens erfahrbar gemacht wird.
Die moderne Naturwissenschaft wurde von nichts so ermöglicht und bedingt wie von der mathematischen Sprache: durch sie war es möglich, Phänomene in ein Verhältnis zu setzen in für das Verstehen nachvollziehbare Beziehungen, in messbare, aufeinander präzise geordnete Beziehungen. Die Phänomene werden mathematisch in ihrer Quantifizierbarkeit in Verhältnis dargestellt, in Gleichungen ausgedrückt. So wird berechenbar, was die Veränderung einer Variabel für die andere Variabel bedeutet. Es wird möglich, Planetenbahnen zu beschreiben und Positionen der Planeten vorauszusehen – Mathematik ist grundlegend auch für die astronomische Revolution, die zu Beginn der Neuzeit als paradigmatisches Erkenntnisfeld steht. Eine einzige Sprache, die sich für alle messbaren Phänomene eignet: eine Sprache, die sich selbst transparent macht, um die Beziehung von Vorgängen sichtbar werden zu lassen. Und langsam bezwingt sie alle Bereiche des Wissens: nicht nur für physikalische, sondern für Vorgänge fast jeder Disziplin wird die Messbarkeit gesucht.
Der mathematische Ausdruck gilt als Garant der Verstehbarkeit. Ob eine Gleichung Ausdruck des Verhältnisses von Vermögen und Bildung, oder von Benzinverbrauch pro gefahrene Kilometer, oder gar von Psychische Zustände und hormonell bestimmbare Werte ist – es ist primär nicht an der Gleichung selbst abzulesen; welches Phänomen beschrieben wird muss zusätzlich erläutert werden. Seit der Neuzeit ist die Mathematik massgebend für die Mehrheit aller Wissensbereiche: Eine universelle Sprache. Grosse Entwicklungen folgten und folgen dieser Errungenschaft. Gleichzeitig stellt sich die Frage, was von dieser Messbarkeit nicht erfasst wird.
Was in der Gleichung nicht erfassbar ist, sind die Eigenschaften des beschriebenen Phänomens. Sie verschwinden – die Sprache der eindeutigen Zuordnung drückt sie nicht als solche aus. In diesem Sinne stellt die Mathematik die Vorgänge als Abstraktionen dar: Viele der Eigenschaften, die ihnen eigen sind und sie unterscheiden, werden nicht in dem ausgedrückt, was im Messbaren vermittelt werden kann.
Andererseits stellt die Gleichung wie kaum Anderes für das Erleben die Erkennbarkeit der Welt dar: das Erkennen ist ein in Verhältnis setzen, ist mitunter selbst sich im Verhältnis setzen zu etwas Wahrgenommenem, Vergegenwärtigtem. Beim Erkennen wird eine Beziehung wahrgenommen und nachvollzogen. In eindrucksvoller Weise schreibt Nicolaus Cusanus (1401-1463) im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit über die Bedeutung der Zahl für die erkennende Erfassung von Verhältnissen:
«Alle Forschung besteht also im Setzen von Beziehungen und Vergleichen, mag dies einmal leichter, ein andermal schwerer sein. Das Unendliche als Unendliches ist deshalb unerkennbar, da es sich aller Vergleichbarkeit entzieht. Beziehung bedeutet Übereinstimmung in einem Punkt und zugleich Verschiedenheit. Sie lässt sich deshalb ohne Zahlenverhältnis nicht denken. Die Zahl umschliesst also alles, was zueinander in proportionale Beziehung gebracht werden kann.»3
Rudolf Steiner hatte Nicolaus Cusanus eine «Merksäule» seiner Zeit4 genannt und ihm eine entscheidende Rolle für das zugeschrieben, was zu Beginn der Neuzeit geschah und was sich daraus entwickeln sollte.5
Nun schlägt Steiner den Lehrer und Lehrerinnen vor, von der Einheit, vom Ganzen auszugehen. Das Zählen soll nicht als additives Hinzufügen erlebt werden, sondern als Gliedern der Einheit. Dieses Gliedern der Einheit schwingt fort im Lebensleib, im Ätherleib des Kindes.6
Auch bei der Addition gilt es, vom Ganzen auszugehen und dann in die Teile zu kommen, d.h. von der Summe zu den Addenden:
«So dass man also ausgeht von dem, was immer das Ganze ist, und übergeht zu den Teilen. Dann wird man den Weg wiederum zurückfinden zu dem gewöhnlichen Addieren.»7
Es wird vorgeschlagen, die Rechenoperationen zu Beginn des Rechnens so zu üben, dass die erfahrbare Beziehung und nicht das Ergebnis im Vordergrund steht. Die Techniken für das Lösen einfacher Gleichungen liegen den Erstklässlerinnen und Erstklässlern fern. Das einfühlende, suchende Hineinversetzen in die nachvollziehbare, gegebene Beziehung wird geübt, indem nicht die Frage gestellt wird: Wie viel ist 7 plus 11? sondern indem versucht wird zu entdecken, nachzuspüren: Damit 18 ist, was muss zur 7 hinzukommen?
Es entsteht eine andere Art von Wachsamkeit – als Erwachsener muss man sich gedanklich und fast kontemplativ in den Prozess hineinversetzen, um die andere Qualität zu spüren. Es kommt so «das Lebendige in die Sache hinein»8, es ist erlebbar, wie in der Gleichung die Spannung des Verhältnisses gegenwärtig, wie ein feines Gespür für den Zusammenhang aktiv wird. Diese Spannung bringt Lebendigkeit in das Erleben, belebt den Unterricht – ja, die Rechnungsarten sollen gar vom Kopf «wiederum auf die Beine» gestellt werden9.
«Gönnen wir es dem Kinde, dass in gesunder Weise sein physischer und sein Ätherleib fortarbeiten. Das können wir aber nur, wenn wir wirklich Spannung, Interesse, Leben hineinbringen gerade in den Rechnungs- und Geometrieunterricht.»10
«An den ganzen Menschen richtet man sich, wenn man die Einheit ins Auge fasst und von da zu den Zahlen übergeht, wenn man die Summe, den Minuenden ins Auge fasst, den Quotienten, das Produkt, und von da zu den Gliedern übergeht.»11
Rudolf Steiners Vorschlag ist auch von Bedeutung, wenn man die Grundlagen bedenkt, die René Descartes in seinem discours de la méthode gelegt hat und die in vieler Hinsicht zur Orientierung in der Wissenschaft und auch – wenn auch oft unausgesprochen – in der Didaktik geworden sind.
Unter den vier Regeln, die Descartes ausnahmslos zu befolgen empfiehlt, um in den Wissenschaften Sicherheit zu erlangen, nennt er das Prinzip der Teilung, das analytische Verfahren und auch das Prinzip, immer vom Einfachsten und Leichtesten der zu erkennenden Dinge zum Komplexesten aufzusteigen.12 Diese Prinzipien sind grundsätzlich für das wissenschaftliche Verfahren – jedoch für das lernende Erleben, welches eine moralische Dimension im Erkennen der Welt beinhaltet, braucht es den Bezug zur Ganzheit und auch den Mut, aus der Komplexität der Wirklichkeit in die Einzelheiten zu gehen, und das Reichtum des Realen – nicht die Addition einzelner Teile, die eventuell ersetzbar oder auch überflüssig sind – als Ausgang für das Lernen erlebbar zu machen. Dieser Horizont und damit die sittliche Dimension wird in Steiners Vorschlag für den Beginn des Rechenunterrichts angesprochen. Gerade für das Rechnen, für die Mathematik soll die Aufmerksamkeit auf das Sittliche gelenkt werden – von Anfang an. Es ist, als ob hier gleich zu Beginn des Lernens erfahren werden soll, dass Erkennen ein Hineinleben in Beziehungen ist, in Beziehungen eines unendlich differenzierten Zusammenhangs, der sich dem Lernen erschliesst.
Constanza Kaliks
Der vorliegende Text war ein Beitrag anlässlich eines Treffens des Haager Kreis - Internationale Konferenz für Steiner Waldorf Pädagogik, im November 2023.
Referenzen
1: Rudolf Steiner. Gegenwärtiges Geistesleben und Erziehung. GA 307. Dornach5 1986, S. 14.
2: Ebd., S. 15
3: Nikolaus von Kues. De docta ignorantia. Die belehrte Unwissenheit. Buch I, Kapitel 1, 3, S. 7f. Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2002.
4: Rudolf Steiner. Anthroposophische Leitsätze. GA 26. Basel: Rudolf Stzeiner Verlag, 2020, S. 144.
5: Vgl. Constanza Kaliks. Erkenntnis als Menschwerdung. Nikolaus von Kues und Rudolf Steiner. In: Peter Selg / Marc Desaules (Hg.). Anthroposophie: Erfahrende Wissenschaft des Geistes. Arlesheim: Verlag des Ita-Wegman-Instituts, 2023.
6: Vgl. Rudolf Steiner. Gegenwärtiges Geistesleben und Erziehung. GA 307. Dornach5 1986, S. 183f.
7: Ebd., S. 185.
8: Ebd., S. 183.
9: Ebd., S. 184.
10: Ebd., S. 181.
11: Ebd., S. 187.
12: René Descartes. Discours de la méthode. Bericht über die Methode, die Vernunft richtig zu führen und die Wahrheit in den Wissenschaften zu erforschen. Stuttgart: Reclam, 2012, S. 39ff.