Ein Beitrag zu den wesentlichen Merkmalen der Waldorfpädagogik von Philipp Reubke.
Steiner Waldorf Schulen unterscheiden sich oft erheblich voneinander. In manchen Einrichtungen wird in allen Altersstufen viel gesungen und musiziert, in anderen wird viel Wert gelegt auf Abenteuer- und Erlebnispädagogik. In einigen werden viele Feste gefeiert und wieder woanders wird ein besonderer Wert gelegt auf Fremdsprachenunterricht und Schüleraustausch. Hier ist die Schmiede für Oberstufenschüler in Sichtnähe des Kindergartens, damit man als junges Kind handwerkliche Arbeit sehen kann, dort ist das Physiklabor der Oberstufe über dem Kindergarten, damit die jungen Erwachsenen nicht vergessen, dass Experimentierfreude in der frühen Kindheit beginnt.
In einem Land ist Waldorf eine Privatschule, die ausschliesslich durch Elternbeiträge finanziert und kollegial geleitet wird, mit grosser pädagogischer Freiheit. In einem anderen Land wird Waldorf vom Staat finanziert, durch Schulleiter geführt und durch Inspektoren geprüft und unterstützt. Und auch die Namen variieren: Vrijescholen in Holland1, Steinerschulen u.a. in der Schweiz und in Skandinavien2, Waldorf in Deutschland und vielen anderen Ländern, anthroposophische Schulen in Israel.
Er wird auch bei der Aufnahme von Schulen in die Waldorf World List7 in Ländern ohne Föderation. Für die Steiner Waldorf Kindergärten hat die IASWECE8 ein vergleichbares Dokument veröffentlicht.9
Auch Rudolf Steiner ermutigte die Lehrpersonen seiner Zeit zur Vielfalt in der pädagogischen Praxis. Waldorfpädagogik sei kein abstraktes Programm, das man in identischer Weise an verschiedenen Orten realisieren könne. Eine Waldorfschule «kann nicht dadurch organisiert werden, dass man … ein Programm entwirft, wie nun die Schule eingerichtet sein soll: Paragraf 1, Paragraf 2 und so weiter.» «Auf abstrakte Programmgrundsätze kommt es nicht an, sondern auf die Realitäten, die man vor sich hat.»3 «Denn Waldorfschul-Pädagogik ist nicht eigentlich etwas, das man lernen kann, über das man diskutieren kann, sondern Waldorfschul-Pädagogik ist eine reine Praxis, und man kann eigentlich nur beispielhaft erzählen, wie in diesem oder jenem Falle, für dieses oder jenes Bedürfnis die Praxis ausgeübt wird.»4
Mit den wesentlichen Merkmalen der Waldorfpädagogik setzt sich die Internationale Konferenz für Steiner Waldorf Pädagogik (Haager Kreis)5 setzt sich dafür ein, die Qualität der Waldorfschulen weltweit zu fördern und ein Garant zu sein, dass da, wo Waldorf draufsteht, auch Waldorf praktiziert wird. Angesichts der oben beschriebenen Sachlage – Diversität der Schulformen, Fehlen eines allgemeingültigen Programms – ist das keine leichte Aufgabe. Der Haager Kreis versucht sie seit einigen Jahren so anzugehen, dass Steiner Waldorf Pädagogik – nicht durch bereits vorgegebene, strikt einzuhaltende und normative Kriterien definiert, sondern durch offen gehaltene Formulierungen charakterisiert wird.6 Dieser Text kann Grundlage sein für die Kriterien, die Waldorf Föderationen bei der Begutachtung von Schulen in ihrem jeweiligen Land anwenden.
Jede Schule kann diesen Text aber auch als Grundlage bei einer Reflexion über die eigene Arbeitsweise verwenden. Nach einer Lektüre der acht Seiten können in Konferenzgesprächen Ideen und Projekte zur Sprache kommen, die bestimmte festgefahrene Traditionen überwinden oder Einseitigkeiten ausbalancieren können. Da dieser Text immer wieder vom Haager Kreis überarbeitet wird (die letzte Fassung ist vom Mai 2025) sind auch Kommentare und Vorschläge Ihrerseits sehr willkommen.10 Fehlt Ihnen etwas Wesentliches in diesem Text? Oder scheint Ihnen eine Passage unangebracht?
Ein erstes Charakteristikum für die Arbeit von Lehrpersonen, Erzieherinnen und Erziehern in Steiner Waldorf Einrichtungen ist die Bereitschaft zur Offenheit, zur Netzwerkbildung, zur Bereitschaft voneinander zu lernen und sich füreinander zu interessieren:
«Ein gemeinsames Bewusstsein und gegenseitiger Austausch in der Region, in einem Land oder international stärken die eigene Arbeit. Dieses Sich-im-Zusammenhang-Wissen kann durch Partnerschaften mit Schulen in anderen Ländern ebenso zum Ausdruck kommen wie durch Hilfestellungen für Schulen, die im Aufbau oder in einer Notlage sind. Auch die Teilnahme von Lehrerinnen und Lehrern, Eltern- und Schülervertretern sowie Schülervertreterinnen an regionalen, nationalen und internationalen Fortbildungen und Tagungen gehört dazu.
Gegenseitiges Interesse und der Versuch, die lokale Erziehungspraxis im Einklang mit den Wesentlichen Merkmalen zu gestalten, stärkt die Einrichtung sowie die Waldorfpädagogische Bewegung insgesamt. Isolation, Nischendasein sowie mangelnde Bereitschaft zur Zusammenarbeit schwächt sie. Dazu gehört auch, dass Steiner Waldorf Schulen sich als Teil der gesellschaftlichen Zusammenhänge ihres Umfeldes und des öffentlichen Lebens verstehen und das zu erkennen geben.»11
In Zeiten von Arbeitsüberlastung oder von angespannten Verhältnisse innerhalb der eigenen Einrichtung lebt oft die Tendenz, sich abzuschotten und sich nur auf die eigene Arbeit zu beschränken. Aber gerade dann sind Konferenzgespräche mit der Frage sinnvoll: Wie sind unsere Beziehungen zu anderen Steiner Waldorf Schulen? Zu anderen Schulen in unserer Nachbarschaft? Nehmen wir an Fortbildungen und Tagungen teil, an denen wir die eigene Praxis von einer anderen Warte aus bedenken können? Sind wir Teil der Zivilgesellschaft und berücksichtigen wir die Herausforderungen unserer Zeit in unserer Unterrichtspraxis?
In kommenden Ausgaben des Newsletters werden wir weitere Aspekte der wesentlichen Merkmale aufgreifen. Beiträge sind willkommen!
Referenzen
1. Vrijescholen
3. Rudolf Steiner.- Die geistig seelischen Grundkräfte der Erziehungskunst.- (GA 305). Oxford, 23.8.1922 (7. Vortrag),
4. Rudolf Steiner.- Gegenwärtiges Geistesleben und Erziehung.- (GA 307) Ilkley, 10.8.1923. (6. Vortrag)
5. Haager Kreis - Internationale Konferenz für Steiner Waldorf Pädagogik
6. Wesentliche Merkmale/ Richtlinien der Waldorfpädagogik
8. IASWECE
9. Waldorferziehung in den ersten sieben Lebensjahren
10. paed.sektion@goetheanum.ch
11. «Wesentliche Merkmale/Richtlinien der Waldorfpädagogik», Seite 2