DIE Wissenschaft gibt es nicht. Darum sollte man versuchen, sie zu verstehen, statt sie einfach zu «befolgen». Ein Beitrag von Dušan Pleštil.
«Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas einen Sinn hat, egal wie es ausgeht.» (Václav Havel).
Wir leben in einer Zeit, die von verschiedenen Krisen geprägt ist. Die Krise unserer Beziehung zur Natur und der Erde ist eine davon. Jeder kennt die Aufforderung, «der Wissenschaft zu folgen». Aber wir vergessen oft, dass die Wissenschaft Teil des Problems ist. Das wissenschaftliche Denken prägt die Art und Weise, wie wir heute die Welt sehen, wie wir in der Natur und mit der Natur handeln. Natürliche Wesen werden zu Dingen gemacht, natürliche Prozesse zu natürlichen Mechanismen, geistlos und leblos.
Die Biologie, eine Wissenschaft vom Leben, hat sich längst mit der Frage abgefunden, was Leben ist. Die Frage nach dem Leben wird nicht gestellt. Die Versuche der 1950er-Jahre, im Labor künstliche Anfänge des Lebens zu schaffen, wurden nur mit wenigen organischen Molekülen abgeschlossen. Es gibt auch nicht DIE Wissenschaft, der man folgen kann. Das erinnert mich an meine Jugendzeit, als die Kommunisten auch eine «wissenschaftliche Weltanschauung» zu befolgen hatten. Was die Wissenschaft zu sagen hat, sollte man verstehen, nicht «befolgen».
Zustand der Erde ist die Folge unseres Denkens
Wenn wir aber bei allem Respekt vor den Errungenschaften der modernen Naturwissenschaft akzeptieren, dass der Zustand der Erde und der natürlichen Welt eine Folge unseres Denkens über das Leben ist, dann kommen wir zu der Erkenntnis, dass wir dringend eine innere Umkehr, eine neue wissenschaftliche Haltung und neue Wege aus der Krise finden müssen. Und diese Wege können nur individuell sein. Es gibt nur Wissenschaftler, aber nicht DIE Wissenschaft.
In seiner Rede bei der Gründung der ersten Waldorfschule am 7. September 1919 in Stuttgart sprach Rudolf Steiner von der Notwendigkeit dieser neuen wissenschaftlichen Haltung. Er wählte als Beispiel das moderne Verständnis des menschlichen Herzens, das als mechanische Pumpe betrachtet wurde und wird. Ein mechanisches Verständnis des menschlichen Körpers und seiner Funktionen kann niemals Grundlage einer menschengerechten Pädagogik sein; wir sehen heute, dass es auch niemals Grundlage eines natürlichen Umgangs mit der Lebenswelt sein kann.
«Wir suchen eine Wissenschaft, die nicht nur Wissenschaft ist, sondern die selbst Leben und Gefühl ist, und die in dem Augenblick, in dem sie als Wissen in die menschliche Seele einfliesst, zugleich die Kraft entwickelt, als Liebe in der Seele zu leben, als aktives Wollen aus ihr herauszufliessen, als Arbeit, die in die Wärme der Seele getaucht ist. Arbeit, die sich unmittelbar mit dem Lebendigen, mit dem werdenden Menschen verbindet. Wir brauchen eine neue wissenschaftliche Haltung.»1
Diese neue wissenschaftliche Haltung kann als Goetheanismus verstanden werden, auch wenn Steiner sie bei dieser Gelegenheit nicht direkt ausspricht.
Es ist bemerkenswert, wie wenig Steiner im Zusammenhang mit seinen Vorträgen zur Waldorfpädagogik über den Goetheanismus spricht. In der Tat sind mir nur zwei Stellen bekannt, an denen er eine direkte Verbindung zwischen Waldorfpädagogik und Goetheanismus herstellt.
Die erste ist in der sechsten Vorlesung der Vorlesungsreihe «Die Erziehungsfrage als soziale Frage», wo er die Zukunft des Erkennens der toten mineralischen Welt als Impuls für das Erfassen des Lebens darstellt. Er bezeichnet den Goetheanismus als Grundton dieses Bestrebens.2 Zweitens taucht das Wort Goetheanismus in der Diskussion der Lehrertagung auf, in der nach einem geeigneten Namen für eine neue Schule gesucht wird. Einer der von Steiner vorgeschlagenen Namen war Goetheschule!3
Ich vermute, dass Rudolf Steiner die Waldorfpädagogik so selten direkt mit dem Goetheanismus in Verbindung gebracht hat, weil sie eigentlich selbst eine Form des Goetheanismus ist. Nehmen wir als Beispiel eine grundsätzliche Beschreibung des Anfangsunterrichts der Epoche der Menschen- und Tierkunde nach dem Rubikon des 9. Lebensjahres.
Der Ausgangspunkt für die «innere Stimmung» des Unterrichts ist die Vorstellung vom Menschen als einer Synthese aller anderen Naturreiche, aber auf einer höheren Ebene. Wir haben heute viel mehr wissenschaftliche Beweise für eine solche Sichtweise, als dies zu Steiners Zeiten möglich war. Nehmen wir nur die Tatsache, dass das menschliche Genom wahrscheinlich grösstenteils viralen und bakteriellen Ursprungs ist, einschliesslich beispielsweise der Gene, die für die Bildung der Plazenta wesentlich sind. Der Mensch hat eigentlich die gesamte Evolution verinnerlicht. Auch die Art und Weise, wie Steiner den Verlauf des Unterrichts beschreibt, ist ein morphologischer Ansatz. Er selbst beschreibt die Methode als «Herausarbeiten des Begriffs aus der Form».4
In der sensiblen Zeit nach dem Rubikon wird das Kind vor allem für die äusseren Aspekte der Welt, für die Form, wach. Steiner ermutigte die Erzieherinnen und Erzieher zu einem exemplarischen Vergleich der menschlichen Form mit den Formen der «menschenfernen» Wirbellosen und der «menschennahen» Säugetiere, natürlich je nach Alter der Kinder. Die Gestalt, die Form des Menschen und des Tieres, ist ein offenbartes Geheimnis seines Wesens im Sinne Goethes.
Von dieser morphologischen Betrachtung geht Steiner zu einer moralischen Betrachtung der menschlichen Hände über, die einen Höhepunkt des Unterrichts darstellt. Für Steiner ist es nicht nur das Gehirn, der Intellekt, sondern auch die Aufrichtigkeit des Menschen, welches die Hände zur Arbeit für die Welt befreit. Diese Befreiung der Hände ist für Steiner der menschlichste Aspekt des Menschen. Sie gibt einen starken Impuls für die Kinder, die dadurch, so Steiner, zu einem aktiven «gesunden Weltgefühl»5 kommen. Dieser Ansatz ist eine wichtige Unterstützung für die Entwicklung des Kindes und zugleich ein wesentlicher Beitrag zur Umwelterziehung im Sinne der Waldorfpädagogik.
Die ersten Lektionen der Naturkunde führen zu einem Verantwortungsgefühl gegenüber der natürlichen Welt und haben das Potential, den Willen anzusprechen. Wir wissen heute so viel darüber, was in der Natur schief läuft, aber wir tun wenig oder nichts. Aber die Erde braucht unser Handeln. Der Waldorflehrer und Goetheanist Andreas Suchantke schreibt in seinem hervorragenden Buch «Partnerschaft mit der Natur»:
«Die Suche nach einem neuen Umgang mit der Natur, die Wiederaufnahme des Dialogs und der Ansatz zur Überwindung des Dualismus beginnen heute offensichtlich nicht auf der Ebene des Wissens, sondern auf der Ebene des Handelns. Man hat fast den Eindruck, dass der Bereich des Wissens einerseits durch theoretische Vertiefungen und die Entwicklung von Traditionen im Bereich der Wissenschaft 'von aussen besetzt' ist. Andererseits wird das Wissen durch das positivistische Primat des Machbaren unterbewertet und damit dem 'neuen Bewusstsein', das sich an der absoluten historischen Neuheit der ökologischen Krise entzündet, nicht oder zumindest vorläufig nicht zugänglich gemacht. Es sucht nach anderen Wegen.»6
Die Struktur der ersten naturkundlichen Unterrichtsreihe, die bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts entworfen wurde, als die Umweltkrise noch nicht bekannt war, ist sicherlich eine grosse Hilfe, um die Krise der Gegenwart besser zu bewältigen. Aber ist das ausreichend? Wenn man heute so viele unserer Schüler trifft, die um die Umwelt trauern und keine Hoffnung für die Zukunft der Erde und auch nicht für sich selbst sehen, spürt man, dass das nicht der Fall ist.
Die bekannte US-amerikanische Umwelterzieherin Joy Palmer sieht die Umwelterziehung auf drei Beinen. Sie besteht erstens aus der Erziehung über die Umwelt, zweitens aus der Erziehung durch die Umwelt und drittens aus der Erziehung für die Umwelt.7 Ich denke, in den Waldorfschulen sind wir sehr gut im Lernen über die Umwelt. Obwohl es sicherlich gute Beispiele für die beiden anderen Arten des Lernens gibt, hat die Waldorfbewegung in diesem Bereich noch viel zu tun.
Wenn Kinder heute mit Bildern der Zerstörung konfrontiert werden – und sie sind ihnen durch ihr Leben im digitalen Raum in Hülle und Fülle ausgesetzt – können sie kein Vertrauen, keine Hoffnung in die Zukunft entwickeln.
Vor kurzem habe ich einen biografischen Film – Salz der Erde – über den brasilianischen Fotografen Sebastião Salgado gesehen. Durch seine Arbeit kam er dem, was Menschen anderen Menschen während Konflikten und Völkermorden antun können, so nahe, dass er jegliches Vertrauen und jegliche Hoffnung in die Menschen verlor, was zu einer schweren Lebenskrise führte. Er begann daraufhin, Tiere zu fotografieren und kam zu einer sehr intimen Erfahrung des Lebens und des Lebens. Zusammen mit seiner Frau begann er, die verwüstete und abgeholzte Landschaft auf der Farm seines Vaters durch Bepflanzung und Bewässerung wieder zu beleben.
In nur zwanzig Jahren verwandelten sie etwa 6900 Hektar Wüste in einen Regenwald. Dabei heilte er nicht nur die Landschaft, sondern auch sich selbst – und machte wieder Fotos. Seine Botschaft war einfach. Es funktioniert!
Und das sollte auch ein Bildungsauftrag für die Umweltbildung in den Ansätzen der Waldorfpädagogik sein. Es gibt Hoffnung. Und Hoffnung entsteht am besten im Tun, in der aktiven Begegnung mit der Natur, die sinnvoll ist. Wenn die Kinder durch sinnvolle Arbeit in kleinen Projekten erfahren können, dass man der Natur nachhaltig helfen kann, wenn man sie pflegt und damit umgestaltet, werden sie Hoffnung für die Zukunft schöpfen, sie werden belastbarer, gesünder.
Dušan Pleštil
Referenzen
1. Steiner, R.: Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik (GA 293). Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1992, S. 208.
2. Steiner, R.: Die Erziehungsfrage als Soziale Frage (GA 296). Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1991, S. 103.
3. Steiner, R.: Konferenzen mit den Lehrern der Freien Waldorfschule in Stuttgart 1919 bis 1924. Erste Band (GA 300a), Rudolf Steiner Verlag, Dornach 2019, S. 196.
4. Steiner, R.: Erziehungskunst. Methodisch - Didaktisches (GA 294). Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1990, S. 100.
5. Ebenda S. 105.
6. Suchantke, A.: Partnerschaft mit der Natur. Entscheidung für das kommende Jahrtausend. Urachhaus, Stuttgart 1993, S. 170.
7. Zum Beispiel Palmer, A. J.: Environmental Education in the 21st Century: Theory, Practice, Progress and Promise. Taylor & Francis Ltd, 1998.