Waldorfpädagogik möchte durch verschiedenen Erfahrungen wie etwa mit Phänomenen, Materie oder praktischem Unterricht lebendiges Wissen bei den Schülern und Schülerinnen ermöglichen. Welche Rolle die Kunst dabei spielt, lesen Sie hier in einem Artikel von Josefin Winther aus Oslo.
Entwicklung eines flexiblen und lebendigen Wissens
Die Qualität des Lehrens und Lernens wird durch erkenntnistheoretische Aspekte bestimmt. Diese Konditionierung wird als ein wesentlicher Aspekt der Waldorfpädagogik angesehen. Die erkenntnistheoretischen Grundsätze Rudolf Steiners beruhen auf der Prämisse, dass «nur die wirkliche Erfahrung Erkenntnis gibt»1. Diese Grundlage findet ihren Ausdruck in einem phänomenologischen Ansatz für das Lehren und Lernen.
Die Waldorfpädagogik erkennt an, dass Wissen aus verschiedenen Formen des Wissens besteht. Die Formen des Wissens reichen von stillschweigenden, intuitiven, erfahrungsmässigen und präkonzeptionellen Formen über explizite, abstrakte und theoretische Formen bis hin zu praktischen Formen des Wissens. Die Waldorfpädagogik strebt danach, diese Formen als gleichwertig zu kultivieren und ein kreatives und synergetisches Zusammenspiel zwischen ihnen zu ermöglichen.
Durch vielfältige Erfahrungen mit Phänomenen und Materie, Unterrichtsstilen, Kunstformen und praktischen Fertigkeiten zielt die Waldorfpädagogik darauf ab, einen flexiblen und lebendigen Wissensapparat bei den Schülern zu entwickeln.
Die Bedeutung der Kunst in der Erziehung
Kunst als Gleichmacher
In der Kunst gibt es keine richtigen oder falschen Antworten. Vielmehr wird der authentische menschliche Ausdruck immer eine Qualität der Kunst sein. Daher bietet Kunst pädagogische Kontexte, in denen Fähigkeiten und Leistungen dem echten Ausdruck der Individualität untergeordnet werden. Gleichzeitig ist die Kunst unerlässlich für das Üben und Erlernen allgemeiner Techniken und praktischer Fertigkeiten wie Malen, Zeichnen, Handschrift, Bildhauerei, Körperbewegungen, Singen und Instrumentalspiel. Mit dem individuellen Ausdruck als Grundlage, gestärkt durch praktische Fertigkeiten und Techniken, bietet die Kunst Schülern und Lehrern eine unvergleichliche Möglichkeit, Begegnungen mit der Welt zu verarbeiten und auszudrücken und ihre Individualität zum Ausdruck zu bringen.
Kunst als Sinn
Kunst ist von entscheidender Bedeutung, wenn es darum geht, den Schülern Sinnerfahrungen zu vermitteln und ihnen die Möglichkeit zu geben, aus ihren Lebenserfahrungen einen Sinn zu schaffen. Ein Gefühl der Sinnhaftigkeit ist für die emotionale und psychische Gesundheit von entscheidender Bedeutung, und die Kunst ist ein Schlüsselbereich, um der Welt einen Sinn zu geben. Kunst wird gelenkt und entspringt aus dem mittleren Bereich der Seelenkräfte – dem Gefühl. Denken ohne Gefühle ist kalt, berechnend und kann sogar grausam sein. Handeln ohne Gefühle kann unkontrolliert, exzessiv oder gar gewalttätig sein. Dem Gefühlsbereich kommt also eine besondere Rolle zu, denn er hat eine harmonisierende Aufgabe, bei der Gedanken und Handlungen durch das Gefühlsvermögen abgemildert werden müssen.
Da instrumentelle Vorstellungen die Gesellschaft auf allen Ebenen beeinflussen, indem sie das Produkt gegenüber dem Prozess und die Effektivität gegenüber der Präsenz fördern und bewerten, besteht eine wichtige Aufgabe der Schulen darin, den Schülern autotelische Aktivitäten anzubieten. Autotelisch bedeutet, dass eine Tätigkeit aus sich selbst heraus sinnvoll ist, d. h. sie dient nicht dazu, ein zukünftiges Ziel zu erreichen oder zu einem Produkt zu führen. Diese Eigenschaft ist notwendig, um den Schülern einen Zustand des «Flow» zu ermöglichen und die Fähigkeit zu fördern, in sich selbst zu ruhen, präsent und aufmerksam zu sein.
Kunst als Wissenschaft
Die Waldorfpädagogik geht davon aus, dass Kunst und Wissenschaft in einem inneren Zusammenhang stehen. Steiner war zutiefst von Goethe inspiriert. Er verstand «Kunst als praktische Wissenschaft»2 und Kunst und Wissenschaft als die beiden Arten, die Geheimnisse der Welt zu deuten3. Darüber hinaus ist es wichtig, sich der engen Beziehung zwischen Kunst und Wissenschaft bewusst zu werden, da künstlerische Aktivitäten nicht als eine rein expressive oder gefühlsbetonte Tätigkeit verstanden werden dürfen, sondern tiefgreifende wissenschaftliche Dimensionen haben. Die Aufgabe des Lehrers ist es also, die Phänomene der Welt «wissenschaftlich zu erfahren und in eine künstlerische Form zu bringen»4.
Kunst als Wissen
Künstlerisches Arbeiten ist unerlässlich, um den Reichtum der Wissensformen zu kultivieren. Durch die Kunst werden die präkonzeptionellen und intuitiven Wissensformen5 genährt und offengelegt. Das Schaffen entspringt einer unmittelbaren Form des Wissens, die in der Tat ein Weg ist, qualitative Beziehungen zur Welt zu kultivieren. Die Fähigkeit, qualitatives Wissen zu kultivieren, ist wichtig, da wir in einer Zeit leben, in der wir grenzenlosen Zugang zu quantitativem Wissen über die Welt haben. Qualitatives Wissen zeichnet sich durch eine innige, künstlerische und tiefe Verbindung mit der Welt aus.
Kunst als spirituelle Praxis
Da sich die Rolle der Religiosität in den letzten Jahrzehnten tiefgreifend verändert hat, hat das Bedürfnis und die Suche des Einzelnen nach existenziellem Sinn eine wesentliche Stütze verloren. Es ist notwendig, neue Wege zu entwickeln, um Spiritualität zu erforschen und zu praktizieren.
Künstlerische Aktivitäten können bei dieser Suche6 eine wichtige Rolle spielen. Sie können durch die Kultivierung der körperlichen, sozialen und spirituellen Dimensionen der Erfahrung, die die Kunst mit sich bringt, eine tiefere Selbsterkenntnis und eine Rückverbindung (daher die etymologische Grundlage des Wortes Re-Ligion) ermöglichen. Musik, Bewegung und Tanz können in diesem Zusammenhang besonders hilfreich sein, da sie sich alle durch eine Unmittelbarkeit und Praxis auszeichnen, praxisbezogen sind und kollektiv durchgeführt werden können.
Kunst als Moral
Die Waldorfschulen haben es sich zur Aufgabe gemacht, eine Erziehung zur Freiheit zu vermitteln. Im Sinne Steiners wird der Begriff der Freiheit als eine zutiefst verantwortliche Art des Umgangs mit der Welt verstanden. Freiheit darf nicht als etwas Egoistisches oder Individualistisches verstanden werden, das im Widerspruch zu einem höheren Gut steht. Denn «das, was wir gut nennen, ist nicht das, was der Mensch tun muss, sondern das, was er tun will, wenn er die wahre Natur des Menschen voll entfaltet».7 Daher ist die moralische Entwicklung in der Waldorfpädagogik grundlegend. In der gegenwärtigen Landschaft von Politik, Gesundheit und Philosophie wird viel Wert auf rationalistische Kausalitäten gelegt, wenn es darum geht, moralische Entscheidungen zu treffen. Der Begriff der Moral hat für das moderne Individuum bestimmte dogmatische Konnotationen, aber es ist wichtig, dass wir bewusst mit den Grundlagen der Moral arbeiten, wie sie in Steiners ethischem Individualismus beschrieben sind.
Durch das Praktizieren von Kunstformen, sowohl kollektiv als auch individuell, werden die Schüler spirituell gefördert, so dass die moralische Entwicklung mit den spirituellen Realitäten der Welt verbunden sein kann.
Josefin Winther
Referenzen (auf Englisch)
1: Steiner, R. (1922) The Spiritual Communion of Mankind, lecture III, GA 219
2: Steiner, R. (1988) Goethean science, lecture 8, GA 1
3: Steiner, R. (1988) Goethean science, lecture 8, GA 1
4: Steiner, R. (1988) Goethean science, lecture 8, GA 1
5. Heron, J. (1996) Co-Operative Inquiry: Research into the Human Condition. SAGE
6: Winther, J. (2023) «From confession to self-knowledge. Singing as a connection between religious experiences, artistic activity, and self-knowledge», International Steiner-Studies, 4(1), p. 26)
7: Steiner, R. (1964) The Philosophy of Freedom, chapter 13, GA 4