Der Artikel ist eine erweiterte Fassung eines Kurzvortrages von Trevor Mepham, den er am 22. Juni 2024 in der Steiner Waldorf Schule «Michael Hall School» im englischen East Sussex gehalten hat.
1924 – das scheint aus dem Blickwinkel des Jahres 2024 weit weg zu sein. Wieviel Wasser ist seither unter den Brücke hindurchgeflossen! Doch die Resonanz gibt der Zeit einen qualitativeren Klang, und so kann das, was weit entfernt scheint, ganz nah sein.
1924 hielt Steiner in Bern einen Vortrag, in dem er sagte: «Denn wieviel hängt ab davon, dass tatsächlich gewonnen werden könne eine solche Kunst der Erziehung und des Unterrichts, dass die Menschen über das soziale Chaos… hinauskommen. … Und aus diesem sozialen Chaos wird ja kaum etwas anderes herausführen können… als lediglich, wenn es uns gelingt, in die Seelen der Menschen Geistigkeit hinein zu erziehen.»1
54 Jahre später, im Jahr 1978, hielt der russische Schriftsteller und politische Dissident Alexander Solschenizyn eine Eröffnungsrede an der Harvard-Universität, in der er «Hast und Oberflächlichkeit» als «psychische Krankheit des 20. Jahrhunderts» bezeichnete.2
Wenn wir in die heutige Zeit schauen, sind soziales Chaos, Hast und Oberflächlichkeit weiterhin sehr präsent und werden durch eine toxische Mischung anderer Symptome ergänzt.
Alles oder nichts
Auf dem Weltwirtschaftsforum im Januar 2023 wurde davor gewarnt, dass die Welt am Rande einer «Polykrise»3 steht, ein Begriff, der erstmals in den 1970er-Jahren geprägt wurde, um eine Reihe von «kaskadenartigen und miteinander verbundenen Krisen» zu beschreiben. In den ersten Jahren dieses neuen Jahrhunderts schrieb James Martin über die «Megaprobleme»4, die auftreten um dieses – das 21. – zu einem Jahrhundert zu machen, in dem es für die Menschheit um alles oder nichts geht.
Was für eine Zeit, um am Leben zu sein, zu leben und die Welt zu sehen. Und doch sah es der Dramatiker Christopher Fry schon vor 75 Jahren kommen, als er in einem Stück zur Feier des «Festival of Britain»die Zeilen schrieb:
«Gott sei Dank, jetzt ist die Zeit gekommen, in der das Unrecht uns überall begegnet und uns nicht mehr verlässt, bis wir den schwierigsten seelischen Schritt tun, den die Menschen je getan hat.»5
Heute wird der Begriff «agency» (Teilhabe, Handlungsgfähigkeit) oft verwendet, um die menschliche Fähigkeit auszudrücken, in voller Autonomie an seinem Lebensort Initiativen zu ergreifen. Doch allzu oft wird diese Fähigkeit von einer schleichenden Apathie verdrängt, wenn wir versuchen, uns in leblosen Systemen, in Strukturen ohne Beziehungen und Kultur zurechtzufinden.
Es besteht die Möglichkeit, dass wir immer mehr, ohne es zu merken, von dem Hang zur seelischen Starrheit und zum automatischen Reagieren ergriffen werden. Dies stünde im Widerspruch zu dem, was man als die «Bestimmung» des Menschen bezeichnen könnte – die Welt voll engagiert zu bewohnen, eingebettet in ein Netz aus Liebe, Kreativität und gemeinsamem Werden.
Wie lernt ein Kind vor diesem Hintergrund zu sein, zu tun, zu wachsen und zu werden? Wie lernen Kinder, zu lernen?
In einem Vortrag, der im Februar 1923 gehalten wurde6, unterstrich Steiner, dass eine von Liebe durchdrungene Erkenntnis zu Verständnis führen kann. Obwohl dies ein etwas mysteriöser, sogar mystischer Weg des Lernens zu sein scheint, basiert er auf zwei menschlichen Fähigkeiten – Beziehungen knüpfen und Lernen durch Erfahrung.
Aber wie kann ein Mensch Dinge erkennen?
Im Laufe der Jahrhunderte wurden zu dieser Frage riesige Traktate geschrieben und komplizierte, gelehrte Diskussionen geführt. Goethe schlug vor, dass Wissen – lebendiges Wissen – auf folgende Weise kultiviert werden kann: sorgfältig beobachten, zuhören, wahrnehmen, was vor einem ist, den «Anderen» sprechen lassen.
Doch wie kann man Erkenntnis lieben – in all ihren Aspekten und Erscheinungsformen?
In Steiners Ausführungen wird auch ein Weg geschildert, wie Liebe zur Erkenntnis entwickelt werden kann. Indem man dem Gegenstand der Erkenntnis erlaubt, zu sprechen und sich auszudrücken, indem man seine Aufmerksamkeit auf ihn richtet und ein warmes Interesse an dem entwickelt, was vor einem liegt, kann eine Beziehung entstehen, die nicht nur einseitig oder transaktional ist, sondern darüber hinausgeht, in eine Sphäre, die man als kontinuierliches Lernen bezeichnen könnte –eine Lernbereitschaft, die auf progressiver Gegenseitigkeit beruht.
Was also ist Verstehen?
Wie T.S. Elliot feststellte, kann viel Weisheit oder Verständnis in der Anstrengung der wissenschaftlichen Erkenntnisbemühung verloren gehen, überschwemmt von Informationen und Daten.7 Wenn man jedoch in der Lage ist, sich unter die Wesen und Dinge der Welt zu stellen und sie mit einem engagierten, offenen und suchenden Geist zu ertragen, dann kann auf authentische, wenn auch nicht greifbare Weise ein dynamisches Verständnis gedeihen.
Es gibt bestimmte soziokulturelle und bildungspolitische Tendenzen, die in diesen Zeiten allgemein spürbar sind und die den oben beschriebenen Prozessen und Wegen entgegenstehen:
Diese Trends konzentrieren sich in der Regel auf die Erfassung und Analyse messbarer Daten, aber es ist zweifelhaft, wie solche Tendenzen die menschliche Veranlagung für «lebenslanges Lernen» fördern und verbessern können.
Im Grunde geht es bei der Bildung oft um immer mehr, immer jünger, immer schneller, immer besser. Das Quantifizierbare und das Materialistische sind dominant; das Ungreifbare, das Unfertige und das Ewige werden ignoriert, bevormundet oder verhöhnt.
Die Antwort der Waldorfpädagogik auf einige unserer heutigen «Probleme» ist nach 105 Jahren entwaffnend einfach und basiert auf tiefgreifenden Einsichten und Entdeckungen über das sich entwickelnde Kind, den sich entwickelnden Menschen und die lebendige Erde.
Eine Möglichkeit, unsere Situation in Nordwesteuropa im Jahr 2024 zu erfassen, besteht darin, die sozialpsychologische und wirtschaftlich-politische Welt mit folgenden Merkmalen zu beschreiben: Fragmentierung, Komplexität, Angst, Ambiguität und Exponentialität. Dies ist natürlich nur eine unvollständige Darstellung, aber es ist wohl so, dass die Menschen, ob jung oder alt, diese Strömungen als mehr als nur abstrakt empfinden; sie sind lebensgestaltend und haben konkrete Auswirkungen auf das tatsächliche Leben.
Was ist im Grossen und Ganzen die Antwort der Waldorfpädagogik auf diese Merkmale?
Die Zersplitterungist wohl ein hervorstechendes Merkmal einer globalisierten Welt. Das Gefühl der Trennung und des Auseinanderbrechens scheint ein paradoxes Element einer schrumpfenden, zunehmend vernetzten Welt zu sein. Allerdings ist eine Fragmentierung dort zu erwarten, wo ein hohes Mass an Virtualität und Oberflächlichkeit vorhanden ist. Dieser Gefahr der Fragmentierung können wir dadurch entgegenwirken, dass wir «Integration» durch unsere pädagogische Haltung und Praxis in den Mittelpunkt stellen– integrierte Lernerfahrungen – und den Wert und die Bedeutung von «Beziehungen» nicht vergessen.
Waldorfpädagogik verleugnet nicht die Komplexität der modernen Zivilisation. Sie wird aber nicht unverdaut und unvermittelt an Kinder im Vor- und Grundschulalter weitergegeben. Stattdessen geht es darum, Nahrungfür das innere Leben zu bieten. Indem die Vorstellungskraftangeregt wird, entsteht der Hunger, die Welt durch die Sinne zu erfahren – etwas herauszufinden, zu erforschen, Dinge zu tun, bewegt zu werden, ein Gefäss zu schaffen, in dem Gedanken entstehen können. Das innere Leben wird in die Lage versetzt, Kohärenzzu entwickeln.
Angst wird durch Interesseersetzt. Das ist leicht gesagt, aber nicht leicht getan. Bedenken Sie Folgendes: In dem Moment, in dem ich mich für etwas interessiere, habe ich ein Gegenmittel gegen die Angst gefunden. Es ist fast so, als ob der Mensch Interesse und Angst nicht gleichzeitig aushalten kann. Und wenn das Interesse Potenzial hat, das heisst, wenn das Interesse stark und beständig ist, dann wird der Raum für die Angst verdrängt. Zeit gibt es auch nicht, oder vielleicht ist sie weniger spürbar. Interesse ist kraftspendend, während Angst erschöpfend ist. Die Waldorfpädagogik ist dazu da, Zeit und Raum zur Verfügung zu stellen, damit Interesse unbegrenzt wachsen kann.
Mehrdeutigkeit muss, ebenso wie Paradoxie und Widerspruch, als Teil der postmodernen Landschaft akzeptiert werden. Die Haltung bzw. Reaktion auf Mehrdeutigkeit ist jedoch nicht festgelegt. Belustigung, Frustration und Zynismus sind keine Selbstverständlichkeiten. Offenheit und Neugierdesind grossartige Lösungsmittel. Problemlösung, Innovation und Teamarbeit sind natürliche Verbündete von Offenheit und Neugierde und können bereits in der Schule erlernt werden.
Bei der Exponentialität geht es um Geschwindigkeit, Beschleunigung und die Verdichtung der Zeit. Wenn wir über Veränderung sprechen, ist nicht nur die Geschwindigkeit der Veränderung, sondern auch die Beschleunigung der
Veränderung selbst schwer zu fassen. Auch wenn es in der Waldorfpädagogik nicht explizit um «langsame Erziehung»8 geht, so hat sie doch etwas mit Erdung zu tun, und sie ist radikal, indem sie den Wurzeln des Lebens und des Wachsens Aufmerksamkeit schenkt.
Nach einer Reihe von katastrophalen Ereignissen, Entbehrungen und gefährlichen Missgeschicken schliesst Voltaire seinen satirischen Roman Candide (1759) mit dem Ausspruch der Hauptfigur Candide: «Il faut cultiver notre jardin»– «wir müssen unseren Garten pflegen». Dies scheint eine bescheidene und kraftvolle Botschaft für unsere Zeit zu sein.
Trevor Mepham
Literaturverzeichnis:
1: Rudolf Steiner – Anthroposophische Pädagogik und ihre Voraussetzungen. (GA 309) 1. Vortrag, S. 7
3: «We’re on the brink of a 'polycrisis' – how worried should we be?» (WEF, 13. Januar 2023)
4: J. Martin (2006), «The Meaning of the 21st Century: A Vital Blueprint for Ensuring Our Future», hier die deutsche Zusammenfassung
5: Aus dem Theater Stück von Christopher Fry: «Ein Schlaf Gefangener»(«A sleep of prisoners»)
6: Rudolf Steiner – Erdenwissen und Himmelserkenntnis. (GA 221)
7: T. S. Elliot – Choruses of the Rocks. All our knowledge brings us nearer to our ignorance, All our ignorance brings us nearer to death, But nearness to death no nearer to God. Where is the Life we have lost in living? Where is the wisdom we have lost in knowledge? Where is the knowledge we have lost in information? Hier der vollständige englische Text
8: Über die « Slow school movement » (langsame, schulische Erziehung) siehe z.B. Maurice Holt «It’s time to start the slow school movement»