Waldorfpädagogik kann kein festgesetztes Programm sein. Denn Lehrpersonen, Eltern und Kindern könnten nicht wie Wachs beliebig geknetet werden, sagt Rudolf Steiner. Kann darum jeder und jede machen, was er und sie will? Ein Beitrag von Philipp Reubke.
Was ist eigentlich Waldorfpädagogik? Die von Eltern, Lehrpersonen, Journalisten immer wieder gestellte Frage hat Rudolf Steiner in England im August 1923 lapidar so beantwortet:
«Waldorfschul-Pädagogik ist eine reine Praxis und man kann eigentlich nur beispielhaft erzählen, wie in diesem oder jenem Falle für dieses oder jenes Bedürfnis die Praxis ausgeübt wird.»1
1921, beim «internationalen Weihnachtskurs für Lehrer» im gerade fertiggestellten ersten Goetheanum spricht Rudolf Steiner über Lehrer in Parallelklassen der Stuttgarter Waldorfschule, die auf jeweils ganz andere Art unterrichten würden und sagt, dass generell für alle Lehrerrinnen und Lehrer der Waldorfschule gilt:
«Es mag der einzelne im einzelnen machen, was er will – das wird jeder einrichten nach dem, was er gerade selber als Erzieher im Leben gelernt hat.»2
Waldorfpädagogik im Sinne Steiners ist also kein für alle Mal festgesetztes Programm. Wesentlich ist für ihn zunächst die Erzieherin, der Lehrer: Ihre und seine Beobachtungsgabe, Beziehungsfähigkeit, Phantasie und Intuition, die bewirkt, dass «in diesem oder jenem Falle» eine sinnvolle pädagogische Tat zu Stande gekommen ist. Ganz gleich, wieviele Kritiker in seriösen oder humoristischen Fernsehsendungen auch behaupten mögen, hinter der Waldorfpädagogik stehe ein dogmatisches Programm, das unwissenschaftlich und unzeitgemäss sei, eindeutig ist das nicht der Fall, jedenfalls nicht im Sinne ihres Initiators.
Noch deutlicher hatte Steiner das bereits ein Jahr zuvor im englischen Oxoford, im August 1922, geäussert – ausgehend vom Unterschied zwischen Maschine und lebendigem Organismus (die Maschine kann man programmieren, ein Lebewesen muss man zunächst hinnehmen wie es ist, muss es kennenlernen, wenn man es in seine Absichten mit einbeziehen will).
«In diesem Sinne ist eine Schule, wie sie die Waldorfschule ist, von vornherein ein Organismus und kann nicht dadurch organisiert werden, dass man – ich habe das schon angedeutet – ein Programm entwirft, wie nun die Schule eingerichtet sein soll: Paragraph 1, Paragraph 2 und so weiter.»3
Wer eine Schule gründe und dabei nur ein von vorneherein ausgedachtes Programm durchsetze, der verhalte sich im Grunde übergriffig gegenüber Lehrpersonen, Eltern und Kindern, die sich in diesem Unternehmen Schule zusammengefunden haben, so heisst. Sie seien nicht aus Wachs, das man beliebig kneten kann. Und was ganz wichtig sei für die Entwicklung der Schule: Dass die Lehrerinnen und Erzieher einander gründlich kennen lernen, dass sie die Kinder und die Eltern kennen- und verstehen lernen. Ganz gleich, wie viele Erziehungswissenschaftler bestimmten Waldorfeinrichtungen eine kolonialistische Attitüde vorwerfen: Aus den Äusserungen des Mitbegründers der ersten Waldorfschule kann diese Haltung jedenfalls nicht hergeleitet werden. Der fordert vielmehr nachdrücklich dazu auf, Kontextsensitivität zu üben: Erst die Umstände und die Menschen kennenlernen, und dann schauen, welche besondere Schulform und Pädagogik gerade hier zur dieser Zeit in Erscheinung treten möchte.
«Auf abstrakte Programmgrundsätze kommt es nicht an, sondern auf die Realitäten, die man vor sich hat.»4
Diese beiden Charakteristiken der Waldorfpädagogik – die Lehrperson mit ihrer Inspirations- und Initiativkraft und das Bemühen, die Kolleginnen und Kollegen, die Kinder und Eltern immer besser kennenzulernen – sie ehren und beschreiben die besonderen Lebensbedingungen, in die menschliche Kultur immer eingebettet ist, ihre Schönheit, aber auch ihre Beschränkung. Eine dritte Qualität ist die herzliche Aufforderung an die beteiligten Personen, ihr Gefühlsleben nicht einfach so zu belassen wie es ist, sondern es zu vertiefen und es einem unergründlichen Thema zuzuwenden:
«Denn dasjenige, was am meisten in der Erziehung in Betracht kommt, sind die Gefühle über das Wesen des Menschen, mit denen wir neben dem Menschen stehen.»5
Das Wichtigste sind die Gefühle! Etwas Unfassbares, sehr Individuelles, das aber nicht mehr zentriert bleibt auf unsere persönliche Situation sondern sich hinwendet, sich interessiert für das Studium der kindlichen Entwicklung und Psychologie, für das Studium der Menschenkunde.
Es sind Schilderungen über das Wesen des Menschen in allen seinen Dimensionen, den sichtbaren und den unsichtbaren, genaue Beschreibungen, wie sich bei Kindern und Jugendlichen das Verhältnis von Körper, Seele und Geist im Laufe der Jahre ändern, wie sich Wille und Gefühl entwickeln, welche Qualitäten sich das Kind aus vorgeburtlichen Dimensionen mitbringt und wie sich die gesunde Entwicklung körpergebundener Sinne im Laufe der Jahre in seelische Gewohnheiten metamorphosiert.
Diese und viele andere Erschütterungen unserer Denkgewohnheiten und ein «in Fluss bringen festgefügter Begriffe» hält Steiner bereit, – aber nicht als Ideologie oder Programm. Das hat er ja zuvor klipp und klar gesagt. Es ist ein Beitrag zum Studium über das Wesen des Menschen, dass auf die Gefühle wirken soll. Auch nicht als Gedanken, die geglaubt werden sollen, sondern als Gedanken, die erst mal verstanden werden wollen und denen man seine Gefühle «aussetzt».
Was dann dabei nach dem Durchgang durch die persönliche Gefühlswelt, nach dem fortlaufenden Kennenlernen von Kindern und Eltern als konkrete kreative pädagogische Tat herauskommt ist völlig offen. Es wird eine Überraschung – ein Samenkorn aus dem Studium der Menschenkunde, das sich einnistet in meiner Gefühlswelt, das dann eine zeitlang vergessen wird und plötzlich in einer ganz besonderen Situation in der Begegnung mit bestimmten Kindern und Jugendlichen, bzw. Eltern und Kolleginnen und Kollegin plötzlich überraschende Blüten und Früchte treibt.
«Mag der einzelne die Dinge einrichten, wie er will, wenn er nur dasjenige mitbringt, was sich in sein Herz ablagert durch eine richtige Einsicht in die menschliche Natur, wird er auf die eine Art und auf die andere Art das Richtige machen können.»6
Wie kann ein solcher Satz verstanden werden, wenn man daran denkt, dass Rudolf Steiner selber viele Lehrplan – Vorschläge gemacht hat, die Caroline von Heydebrandt, Ernst A. Stockmeyer, Tobias Richter und heute eine Experten-Gruppe bei der Pädagogischen Forschungstelle weiter ausgearbeitet und aktualisiert haben.7
Auch für Schulen in englischsprachigen Ländern gab es mehrere Autoren, die Lehrpläne vorgelegt haben, zuletzt eine Version die über eine App und Website konsultiert werden kann.8 In vielen Ländern haben die Waldorflandesvereinigungen spezifische Waldorflehrpläne vorgelegt, die speziell auf ihren Kulturkreis zugeschnitten sind, den jeweiligen nationalen Standards entsprechen und zum Teil von den Erziehungsministerien offiziell anerkannt sind.
Der Erfahrungsschatz und das Ergebnis unendlicher pädagogischer Kreativität vieler Generationen von Waldorflehrerinnen und -Lehrern steht heute zur Verfügung, auf die die Berufsanfänger von heute aufbauen können. Viel schneller können sie Experten werden, verschiedene Lehrplanvorschläge miteinander vergleichen und die eventuellen Unterschiede und Ähnlichkeiten mit staatlichen Kurrikula einsehen.
Aber der Erfahrungsschatz der Lehrpläne mag noch so reich sein – wenn ich kein Verständnis habe für kindliche Entwicklung und Psychologie, für Anthropologie und Entwicklungsgesetze des Menschen, wenn ich nicht meine Gefühle mit diesen Fragen verbinde und voller Staunen und Begeisterung den mir anvertrauten Kindern begegne, so dass sie sich von mir gesehen fühlen, wenn ich nicht meine Erziehungspraxis individualisiere, den eignen Eigenarten und denen der Kinder entsprechend, dann fehlt mir noch das kleine bisschen, was der Initiator der Waldorfpädagogik so wichtig fand für die Erziehung:
«… dass sich etwas in unser Herz ablagert durch eine richtige Einsicht in die menschliche Natur».9
Philipp Reubke
Referenzen
1: GA 307, 6. Vortrag
3: GA 303, 7. Vortrag
4: GA 305, 7. Vortrag
5: GA 303, 7. Vortrag
6: ebd.
7: Der Lehrplan der Freien Waldorfschulen
8: Rethinking and Redesigning Waldorf curricula
9: GA 303, 7. Vortrag