Zukunft wagen

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von Uta Stolz, Mentorin Schwerpunkt Lerntherapie, Deutschland

Sind wir plötzlich nur in die digitale Welt geworfen oder gibt es andere Möglichkeiten, die Beziehungsdistanz zu überbrücken?

Inwieweit können wir die Eltern mitnehmen und wo überfordern wir sie, wenn nun plötzlich das Aufgabenpaket für unsere Waldorfschüler und der durchdachte häusliche Ablaufplan nach Hause kommen?

Wie können wir den Weg nicht nur vom Lehrenden zum Lerner, sondern vor allen Dingen auch vom Lerner zum Lehrenden und die Wege der Lerner untereinander aus der Ferne gestalten?

Jeder Lerner ist anders und in dieser Zeit der Krise lebte jeder in seinem eigenen Feld, geprägt von Ressourcen oder auch Spannungen und Konflikten.

Wir Lehrer sind gewohnt, das verbindende, nährende und heilende Feld hervorzurufen und zu halten, um unsere unterschiedlichen Schüler Gemeinschaft für das Lernen erleben zu lassen.

Dieser Grundton fehlt nun. Jenseits vom Lebensalter, den Fächern und den Befähigungen ist die Frage, wie wir auf Distanz an diesem Feld arbeiten können. Wir sind gezwungen, die Bewegungsrichtung und damit die Perspektive umzudrehen:

•   Vom Gemeinschaftlichen zum Einzelnen: jetzt vom Einzelnen zur Gemeinschaft

•   Vom intensiven Wahrnehmen am Anfang der Epoche als ersten Lernprozess: jetzt zum intensiven Wahrnehmen am Ende

•   Vom klar definierten Heute: jetzt zum offenen Morgen

In diesem Prozess sind wir alle gefangen und „Verbindung“, „Nahrung“ und „Heilung“ sind ein Weltthema geworden, innerhalb dessen wir unsere eigene Rolle neu ergreifen können.

Was kann das für die Arbeit mit unseren Schülern bedeuten? Wie schaffen wir es im „Gespräch“ mit ihnen verbindend, nährend und heilend zu sein?

Claus Otto Scharmer beschreibt die vier Formen des Zuhörens und beleuchtet damit vier Arten „des Lehrens.“

•   „Herunterladen“: Lernen aus der Vergangenheit, traditionell von einem einzigen Wahrheitsanspruch geprägt, Input-orientiert und lehrerzentriert

•   „Fakten Hören“: das durch Aufnahme und Wiedergabe von Informationen geprägte Lernen, Output-orientiert und leistungsbezogen

•   „Kommunikation“: das Lernen innerhalb der schulischen Gemeinschaft mit regelmäßiger Rückmeldung zwischen Lehrern, Schülern und Eltern, gesprächsbezogen

•   „Kokreation": das Lernen „aus der Zukunft“ in einem gemeinsamen kreativen Prozess

Er beschreibt, wie erst das „Zuhören“ und damit auch das Lernen auf Stufe 3 und vor allem 4 eine stärkende, vitalisierende und begeisternde Wirkung auf unser ganzes Wesen haben.

Durch eine Anregung, einen Auftrag oder eine Aufgabe regen wir einen häuslichen Lernprozess an. Nur dürftig können wir Aufmunterung und Mut über die Beziehung zu unseren Schülern generieren. Der Mut für das Morgen muss nun aus der Zukunft kommen. Deshalb ist es wichtig den Blick aller auf das gemeinsame Endprodukt zu lenken:

Beispiele:

Klasse 1:

Die Erstklässler haben schon viele Märchen gehört, die ihnen der Lehrer erzählt hat. Jetzt soll eine Märchenerzählstunde mit Großeltern, oder auch Eltern vorbereitet werden, vielleicht werden Nachbarn und Bekannte auch dabei sein. Die Kinder gehen auf die Suche nach einem Erzähler: „Weißt du ein schönes Märchen, würdest du es uns in der Schuleerzählen?“ Wenn jetzt die Kinder über welchen Kanal auch immer den Erzählenden zuhören, wissen sie: damit schaffen wir eine gemeinsame Zukunft, unser Erzählfest. Sie malen Bilder dazu, sammeln Gegenstände, die zum Märchen passen. Oder: sie denken sich selbst ein Märchen aus. Nicht nur die Schüler, sondern eine größere Gemeinschaft kann an dieser Zukunft teilhaben und der Lehrer wird ein staunend Wahrnehmender, denn auch er kennt die entstehende Zukunft nicht.

Klasse 2:

Inventur, das Zahlenbilderbuch für die nächste zweite Klasse soll entstehen. Viele Suchfragen regen die Schüler an häusliche Gegenstände zu ordnen, zu stapeln, in Reihen zu legen, zu fotografieren und natürlich zu zeichnen:

Schätzt, wie viele Bücher im Regal, Teller im Schrank, Schrauben in der Kiste sind. Ordnet oder markiert sie so, dass man das gut erkennen kann, ohne zu zählen. Fünferbündelungen und Zehnerstapel bieten sich an, aber vielleicht kommen die Kinder auch auf eine ganz andere Idee. Sie führen Listen über alles, worüber sie sich einen Überblick verschafft haben. Die Eltern machen davon Gebrauch und der Keller wird aufgeräumt. So viele Gegenstände gibt es im Zahlenraum bis 100. Über das Handeln sprechen wir den Willen an, über das Zeichnen und die regelmäßigen rhythmischen Muster das Gefühl und über das Notieren der Zahlen das Denken. Alle sind gespannt, wie das Zahlenbilderbuch am Ende aussehen wird.

Klasse 3:

Berufe in der Zeit und zurück zu den Vorfahren. Nachdem die Handwerker besprochen sind könnten Berufe ein Thema sein, zum Beispiel die der Großeltern oder Urgroßeltern. Auch da gibt es viel zu erzählen. Die Kinder lernen die richtigen Fragen zu stellen, damit der Erzählfluss in Gang kommt. Und sie selbst erzählen das dann weiter. Sie nehmen nach der Krise vielleicht ein Album, ein Werkstück oder etwas anderes Wichtiges mit und diesmal weitet sich das künftige gemeinsame Erleben in einer ungewissen Zukunft weit zurück in die Vergangenheit, als Überleitung zu den Themen der vierten Klasse.

Klasse 4:

Der Brief, ein Relikt aus alten Zeiten, bildet den Anfang. Vielleicht gibt es solche Briefe noch in alten Schachteln zu Hause, vielleicht müssen Kinder und Eltern wieder die Großeltern fragen. Wer kann ihn lesen, in welcher Schrift ist er geschrieben. Wer schreibt an wen, wo, was und warum? Ein Feld eröffnet sich und die Familie kann gemeinsam auf die Suche gehen. Und wer keine Briefe hat, der bekommt Briefe vom Lehrer geschickt. Vielleicht passt das Thema auch zu einer Lektüre, die gemeinsam gelesen wird. Was macht einen guten Brief aus? Das zum Beispiel können die Schüler herausfinden. Besondere Wörter werden gesammelt. Und wieder wird der Faden gesponnen aus der Vergangenheit in die Zukunft. Jeder bringt in die nächste gemeinsame Epoche einen so besonderen Brief mit und erzählt die Geschichte, die sich darum rankt.

Was gibt es Schöneres, als Geschichten hören, in eine innere Bilderwelt versinken. Dieser Weg ist durch unsere äußeren Bilder erschwert und das gemeinsame Üben in der Familie lohnt sich vielleicht. Der Lehrer wird dabei am Ende ein Hörender sein.

Die Brücke zu dieser Welt bilden die Verwandten des Lerners, ohne sie ist das ein schwieriges Unterfangen. Für diejenigen in der Klasse, die häufig allein zu Hause sind oder deren Umfeld sie nicht so bereichern kann, hat nun der Lehrer Zeit. Vielleicht gibt es Schüler, die einen täglichen Kontakt, Zuspruch und andere Anregungen brauchen. Weniger denn je sind es vorgefertigte Arbeitsblätter und Pensen, die unsere Schüler durch diese Zeit helfen.

Distance learning in unserer aktuellen Zeit heißt genauso wie vorher: Beziehung trägt!

Freuen wir uns auf den Ertrag, wenn wir wieder alle zusammen sind.