Bis zum Zahnwechsel ist die Umgebung für ein Kind das Allerwichtigste. Denn durch unser Handeln, aber auch durch unser Denken und Fühlen prägen wir es. Lesen Sie dazu einige Auszüge aus Rudolf Steiners Werken.
«Das Kind, das neben den Erwachsenen heranwächst, ist ein Imitator auch der schwächsten physischen Zustände des Erziehers. Es richtet sich ganz nach dem physiognomischen Ausdruck, nach dem, was es wahrnimmt ein, nach der Art und Weise, wie der Erwachsene sorgenvoll spricht, sorgenvoll empfindet, weil es ja ganz Sinnesorgan ist.
Imponderable* Wechselwirkungen spielen sich ab zwischen dem Erwachsenen und dem Kinde. Hat der Erwachsene Sorge, die seelisch ist, aber sich in den physischen Folgezuständen offenbart, so nimmt das Kind als Imitator die physischen Folgen wahr und gestaltet das eigene Innere darnach, wie sich das Auge mit der Lichtwirkung durchdringt. Das Kind nimmt eine innerliche Geste, eine innerliche Mimik auf, was sich durch die klebrige Zunge, den bitteren Geschmack offenbart.
Es entwickelt sich bei ihm durch den ganzen Organismus hindurch ein konstitutioneller Abdruck des physischen Erlebens beim Erwachsenen. Es nimmt das in die Länge gezogene Blasswerden des Gesichtes an, das der sorgenvolle Erwachsene hat, aber es kann den seelischen Inhalt der Sorge nicht in sich aufnehmen; es imitiert nur die physische Folge der Sorge. Und das Ergebnis ist, dass beim Kinde sogleich seine physische Konstitution von den geistigen Formkräften, die im Sinnes-Nervensystem ihren Sitz haben, ergriffen wird.
Die inneren physischen und feineren Organe bauen sich im Sinne dessen auf, was das Kind an physischem Abbild der Sorge in sich aufgenommen hat. Es bekommt einen zur Sorge disponierten Organismus, der später auch leicht Lebenseindrücke in Sorge aufnimmt, die eine andere Konstitution nicht dazu treiben.
Das Kind wird auf diese Art zu einem sorgenvollen Menschen durch seinen physischen Organismus erzogen. Solche Erkenntnisse von feineren Lebenswirkungen muss man haben, wenn man im richtigen Sinne Erzieher sein will. Es sind dies für Lehrer und Erzieher Vorbedingungen wie für den Maler die Beobachtungsgabe für Farbenwirkungen.»
(Rudolf Steiner, GA 305, 19. August 1922)
*
«Nun ist das Kind, weil es ein ausserordentlich fein organisiertes Sinnesorgan ist, empfänglich eben nicht nur für die physischen Einflüsse seiner Umgebung, sondern empfänglich für die moralischen Einflüsse, namentlich für die gedanklichen Einflüsse.
So paradox das dem heutigen, materialistisch denkenden Menschen erscheint, das Kind empfindet das, was wir in seiner Umgebung denken. Und es ist nicht nur wichtig, dass wir uns in der Umgebung des Kindes, wenn wir Eltern oder Erzieher sind, nicht bloss nicht gestatten, äusserlich sichtbar ungehörige Dinge zu tun, sondern wir müssen auch in unseren Gedanken und Empfindungen, die das Kind fühlt, aufnimmt, innerlich wahr, innerlich moraldurchdrungen sein.
Denn das Kind gestaltet sein Wesen nicht bloss nach unseren Worten oder nach unseren Handlungen, sondern das Kind gestaltet sein Wesen nach unserer Gesinnung, nach unserer Gedankenhaltung, Gefühlshaltung. Und für die erste Zeit der kindlichen Erziehung bis zum siebenten Jahre hin, ist das Allerwichtigste dieses, wie die Umgebung ist.»
(Rudolf Steiner, GA 307, 10. August 1923)
*
«Ein nachahmendes Wesen ist das Kind, sagte ich, bis zum siebenten Jahre ungefähr. Und ich sage diese Zahl Sieben wahrhaftig nicht aus irgendeiner mystischen Neigung heraus, sondern weil tatsächlich der Zahnwechsel ein Wichtiges in der ganzen Lebensentwicklung des Kindes ist.
Das Kind lernt durch Nachahmung die besondere Artung seiner Bewegungen, auch seine Sprache; es entwickelt sogar auf diese Weise die Form seiner Gedanken. Weil der Zusammenhang zwischen der Umgebung des Kindes und dem Kind selbst nicht nur von dem Äusserlichen abhängig ist, sondern Imponderabilien in sich birgt, müssen Eltern oder Erzieher, die in der Umgebung des Kindes leben, sich klar darüber sein, wie das Kind sich anpasst an das, was die Erwachsenen in seiner Umgebung nicht nur äusserlich tun – nicht nur, was sie sprechen – , sondern was sie empfinden, was sie fühlen, was sie denken.
Man glaubt das gewöhnlich nicht in unserem materialistischen Zeitalter, dass auch ein Unterschied besteht in bezug auf die Heranbildung des Kindes, ob wir uns edlen oder unedlen Gedanken in der Nähe des Kindes hingeben, weil man die Lebenszusammenhänge nur nach äusserlichen materiellen Entitäten sieht, und nicht, wie die Dinge innerlich durch Imponderabilien zusammenhängen. Das sieht man, wenn man das Leben wirklich seinen innerlichen Strukturen nach beobachtet.
Ich möchte an einem Beispiel erhärten, auf was es eigentlich bei solchen Dingen ankommt: Es kam einmal ein Vater zu mir, der klagte bitterlich – und ich könnte manches ähnliche Beispiel anführen –, sein fünfjähriges Knäblein habe gestohlen. Er war darüber sehr unglücklich. Ich sagte: Wir wollen einmal nachsehen, ob der fünfjährige Knabe wirklich gestohlen hat. – Ich liess mir den Fall beschreiben.
*nicht vorhersehbare
Was war eigentlich geschehen? Der Junge hatte aus der Schublade, in der die Mutter ihre Pfennige verwahrte, die sie immer brauchte für die täglichen kleinen Bedürfnisse, etwas Geld herausgenommen, Näschereien dafür gekauft; er hatte nicht einmal aus Egoismus das getan, sondern er hatte die Näschereien verteilt unter andere Kinder.
Ich sagte zu dem Vater: Das Kind hat nicht gestohlen, sondern was die Mutter immer tut, das hält das Kind auch für richtig, dass es das tun dürfe, denn es ist ja in dem Alter von fünf Jahren noch durchaus ein nachahmendes Wesen. Dessen müssen wir uns bewusst sein: nicht durch Ermahnungen, durch Gebote wirken wir auf die Kinder, sondern lediglich durch das, was wir in ihrer Umgebung tun.
Und wir gelangen erst zu einem gesunden Urteil über die ganze Seelenkonfiguration des Kindes, wenn wir wissen: Mit dem Zahnwechsel wird diese Seelenkonfiguration des Kindes eine wesentlich andere. Da tritt an die Stelle des blossen Nachahmens das seelische Verhalten zur Umgebung als einer selbstverständlichen Autorität.
Und wir haben es während der ganzen Schulzeit zu tun mit diesem Verlangen des Kindes nach der selbstverständlichen Autorität des Lehrers, des Erziehers oder dessen, der sonst das Kind umgibt. Man muss nur wissen, was es für das ganze Leben bedeutet, wenn man in diesem kindlichen Alter vom siebenten bis zum fünfzehnten Jahr mit einer wirklichen, grossen inneren Scheu zu denjenigen aufgesehen hat, die als Erwachsene mit erzieherischer Autorität in der Umgebung waren, die so zu uns standen, dass uns das, was wir für wahr und falsch hielten, hervorging aus der Art und Weise, wie diese Erzieher wahr und falsch sahen; auf dasjenige, was für die Erzieher der Massstab von wahr und falsch war. Ins Menschliche, nicht in irgend etwas Abstraktes gehen wir hinein, wenn wir Wahr und Falsch, Gut und Böse in diesem kindlichen Lebensalter unterscheiden wollen.»
(Rudolf Steiner, GA 297 a, 28. Februar 1921)
*
«Es gibt zwei Zauberworte, welche angeben, wie das Kind in ein Verhältnis zu seiner Umgebung tritt. Diese sind: Nachahmung und Vorbild. Der griechische Philosoph Aristoteles hat den Menschen das nachahmendste der Tiere genannt; für kein Lebensalter gilt dieser Ausspruch mehr als für das kindliche bis zum Zahnwechsel. Was in der physischen Umgebung vorgeht, das ahmt das Kind nach, und im Nachahmen giessen sich seine physischen Organe in die Formen, die ihnen dann bleiben.
Man muss die physische Umgebung nur in dem denkbar weitesten Sinne nehmen. Zu ihr gehört nicht etwa nur, was materiell um das Kind herum vorgeht, sondern alles, was sich in des Kindes Umgebung abspielt, was von seinen Sinnen wahrgenommen werden kann, was vom physischen Raum aus auf seine Geisteskräfte wirken kann. Dazu gehören auch alle moralischen oder unmoralischen, alle gescheiten und törichten Handlungen, die es sehen kann.
Nicht moralische Redensarten, nicht vernünftige Belehrungen wirken auf das Kind in der angegebenen Richtung, sondern dasjenige, was die Erwachsenen in seiner Umgebung sichtbar vor seinen Augen tun.
Belehrungen wirken nicht formenbildend auf den physischen Leib, sondern auf den Ätherleib, und der ist ja bis zum siebenten Jahre ebenso von einer schützenden Äthermutterhülle umgeben, wie der physische Leib bis zur physischen Geburt von der physischen Mutterhülle umgeben ist.
Was sich in diesem Ätherleibe vor dem siebenten Jahre an Vorstellungen, Gewohnheiten, an Gedächtnis usw. entwickeln soll, das muss sich in ähnlicher Art «von selbst» entwickeln, wie sich die Augen und die Ohren im Mutterleibe ohne die Einwirkung des äusseren Lichtes entwickeln...
Es ist ohne Zweifel richtig, was man in einem ausgezeichneten pädagogischen Buche lesen kann, in Jean Pauls «Levana» oder «Erziehlehre», dass ein Weltreisender mehr von seiner Amme in den ersten Jahren lernt, als auf allen seinen Weltreisen zusammen. Aber das Kind lernt eben nicht durch Belehrung, sondern durch Nachahmung. Und seine physischen Organe bilden sich ihre Formen durch die Einwirkung der physischen Umgebung. Es bildet sich ein gesundes Sehen aus, wenn man die richtigen Farben- und Lichtverhältnisse in des Kindes Umgebung bringt, und es bilden sich in Gehirn und Blutumlauf die physischen Anlagen für einen gesunden moralischen Sinn, wenn das Kind Moralisches in seiner Umgebung sieht.
Wenn vor dem siebenten Jahre das Kind nur törichte Handlungen in seiner Umgebung sieht, so nimmt das Gehirn solche Formen an, die es im späteren Leben auch nur zu Torheiten geeignet machen. Wie die Muskeln der Hand stark und kräftig werden, wenn sie die ihnen gemässe Arbeit verrichten, so wird das Gehirn und werden die anderen Organe des physischen Menschenleibes in die richtigen Bahnen gelenkt, wenn sie die richtigen Eindrücke von ihrer Umgebung erhalten.
(Rudolf Steiner, GA 34, 1. Mai 1907)