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Ist die Welt gut? Anregungen aus dem Kindergarten für das Leben mit Kindern zu Hause

|   BLOG Distance Learning

von Philipp Reubke, Mitglied der Koordinationsgruppe der IASWECE

Die Kindergärten sind leer, die Zimmerpflanzen sind bei den Erzieherinnen und Erziehern und die Kinder sind bei Ihnen. 

Einschätzung 1

Was für ein Glück, endlich Zeit und Ruhe, um mit den Kindern zu Hause zu sein. Kein Stress mehr durch Termine, Verpflichtungen, Reisen und lange Autofahrten - nur noch gelegentlich einkaufen und sonst das Zusammensein zu Hause genießen – für Kinder gibt es doch nichts Schöneres! Natürlich fehlt Bewegung und Spiel im Wald oder im Park - Wind, Wasser, Erde und das zarte Grün von Buchenblättern, die gerade aus den Knospen geschlüpft sind. Aber hiervon einmal abgesehen: ist es nicht für Ihre Kinder und für uns alle wohltuend, dass die ständige Hektik von Beruf, Schule und Freizeitaktivitäten unverhofft endlich Pause hat. Diejenigen, die in der glücklichen Lage sind, einen Garten zu haben, sehen es doch: es keimt, sprosst und grünt wie selten sonst, weil wir immer da sind und jeden Tag uns um die Beete kümmern können. Und um die Kinder, die froh und beruhigt sind. Endlich haben DIE Leute Zeit, die von den Kindern am meisten geliebt werden: Die Eltern und Geschwister! 

Einschätzung 2

Welch eine Katastrophe: Mehr als drei Milliarden Menschen sind in ihren Wohnungen eingesperrt. Viele Wohnungen sind eng und dunkel, viele Kinder litten schon vorher an Bewegungsmangel und zu viel Bildschirmkonsum, jetzt wird es richtig schlimm. Durch zu wenige körperlich - sinnliche Erfahrungen und zu viel intellektuell-nervöse Stimulation sind viele Kinder emotional unausgeglichen. Den ganzen Tag in derselben Wohnung zubringen mit anderen, die ähnliche Probleme haben und mit dazu noch frustrierten Erwachsenen ist keine ideale Situation, um eine mögliche Neigung zur Aggressivität, Furchtsamkeit oder Depression positiv umzuwandeln. Besonders unverdaulich für Kinder ist auch das, was jetzt in allen Wohnungen stundenlang stattfindet  –  das Reden von der Zahl von Kranken und Toten, von Menschen und Mächten, die für das Schlamassel verantwortlich seien sowie von katastrophalen Zukunftsaussichten. 

Welche Einschätzung ist richtig?  Auf jeden Fall sind Sie, liebe Eltern, zurzeit mit Ihren Kindern zu Hause in einer Zeit, in der alle Menschen ganz stark das Bewusstsein haben, dass die Gesundheit der Natur und des Menschen bedroht sind. Hoffentlich haben Sie von der Erzieherin oder vom Erzieher Ihres Kindergartens schon viele gute Ratschläge für Ihren „Rund-um-die-Uhr Kindergarten“ bei Ihnen zu Hause bekommen. Hier kommen noch ein paar, vielleicht ist ja etwas dabei, an das Sie noch nicht gedacht haben. 

Ist die Welt gut? 

Sicher haben Sie schon von der Idee gehört, wie wichtig es für das kleine Kind sei, dass die Erwachsenen in seiner Umgebung in der Stimmung leben: Die Welt ist gut. Viele von uns sind aber in einer Lebenslage, in der die Einschätzung 2 voll berechtigt erscheint. Die Welt ist nicht gut, wenn allein eine schwer kontrollierbare weltweite Pandemie mit unvorhersehbaren Folgen in der Lage ist, den kollektiven Hang zur Natur- und Selbstzerstörung der Menschheit für ein paar Wochen aufzuhalten. 

Vor 20 Jahren kam der Film von Roberto Benigni in die Kinos: „Das Leben ist schön“.  Manche hielten die Geschichte für überzogen oder kitschig, man konnte aber fühlen, wie der unerschütterliche Optimismus und der Humor eines Vaters auf sein Kind wirken kann. Zusammen sind sie von den Nazis verhaftet worden und sitzen im Zug, von dem der Vater weiß, dass er ins KZ fährt. Auf seine Weise versucht er, selbst in dieser Lebenslage seinem Kind die Stimmung zu vermitteln: „Die Welt ist gut“. 

Es geht nicht darum, ob die Welt tatsächlich jetzt gerade gut oder schlecht ist. Es geht darum, ob wir als Erwachsene ein Projekt haben, von dem wir glauben, dass es die Welt ein bisschen gut machen kann. Für den Vater im Zug ins KZ ist es die wundervolle und heitere Lebensgemeinschaft mit der Mutter des Kindes, für Berenger, die Hauptfigur in Ionescos Theaterstück „Die Nashörner“ (1) in dem sich alle Menschen nach und nach in Nashörner verwandeln, ist es die Liebe zur Kunst und zur Improvisation, für Michel Vaujour, (2) einen zu mehrmals lebenslänglicher Haftstrafe verurteilten französischen Gangster, war es die Entwicklung seelischer Fähigkeiten, von denen er bemerkte, dass sie in unvorstellbarer Weise durch bestimmte Übungen wuchsen. Für mich kann es auch das Radieschen-Beet im Garten sein oder das Küchenregal, das ich selbst baue. 

Als Kindergärtner wissen wir, wie positiv es auf die Kinder wirkt, wenn wir ein Projekt haben. Wenn wir mit Lust und Freude an eine konkrete  Arbeit in der unmittelbaren Umgebung herangehen. Durch das Projekt und durch die Arbeit erzeugen wir seelische und körperliche Wärme. Plötzlich können wir Streit oder auffälliges Verhalten von Kindern viel souveräner aufnehmen, Spannungen lösen und Zuversicht entwickeln. 

Genau das ist auch die positive Wirkung auf die Kinder: Durch unsere Arbeit werden sie zum freien Spiel angeregt, kommen selber in Tätigkeit, haben eigene Projekte, die sie unbedingt ausführen möchten. Wärme breitet sich aus – sie zündet mit der Idee, was wir machen könnten, damit etwas in unserer Umgebung etwas besser oder schöner wird, sie fließt in  unsere Motivation etwas Konkretes zu tun, lebt in unserer Freude bei der Arbeit  und springt schließlich über auf die Kinder, die aufhören,  Kommentare zum Corona-Virus abzugeben, sondern vielmehr zu Eigenaktivität angeregt werden. Dabei entwickeln sie selbst eine ungeheure Wärme, die die unsrige bei Weitem übersteigt. 

Wärme brauchen wir  - und vor allen Dingen die Kinder  dringend, wenn wir eine Situation erleben, die Angst erzeugt: Wenn alle Menschen in der Umgebung sich nach und nach in Nashörner verwandeln, wenn Singvögel und Bienen sterben oder ein ansteckender unberechenbarer Virus umgeht. Wärme entsteht dadurch, dass der abstrakte Glaube, die Welt sei gut, sich in eine konkrete, sinnvolle Arbeit verwandelt, von der ich glaube, dass sie die Welt unmittelbar ein Stückchen besser macht. 

Anregungen aus dem Kindergarten für Sie zu Hause: 

Radieschenbeet:Die Kinder sehen und fühlen, wie „gut“ wir zu den Erdkrumen sind, wie zart wir mit den Keimblättern umgehen. 

Küchenregal:Das Holz ist nach Sägen, Raspeln, Bohren und Schleifen schön glatt, und den Gewürzdosen, die vorher ungeordnet im Schrank herumlagen, geht es jetzt richtig gut auf dem Küchenregal. 

Puppenbett:Auch der Puppe geht es gut, wenn sie nicht mehr in einer Ecke schläft, sondern ein eigenes Bett hat. Das muss nicht aus Holz sein, es kann auch ein Karton oder ein Korb sein, mit dem man sich eine Weile beschäftigt, bis er schön ist. 

Kleiderschrank:Weil es da viel zu eng ist, sind die Kleider dort sehr eingezwängt. Wir könnten ihnen doch allen guten Tag sagen, sie alle auf Tischen Stühlen und Betten ausbreiten, und dann die, die wir gerne mögen und die nicht zu klein sind, wieder schön falten und in den Schrank legen, und die anderen in eine schöne Kiste packen zum Verschenken. Dann geht es ihnen richtig gut! 

Bücherregal:Alle Bücher und Kleinigkeiten die auf Regelbrettern monatelang zugebracht haben und jetzt vor Staub husten, könnten wir alle in eine andere Ecke des Wohnzimmers tragen und aufstapeln und dann das Regal wischen und wachsen…. 

Festessen:Ein oder mehrere Tage pro Woche könnten wir zum Festtag erklären, der spätesten schon einen Tag vorher auf alle mögliche Weise vorbereitet wird: Durch Putzaktionen, Kleiderbügeln, Backen, Braten, Kochen, Lieder lernen, Dekoration basteln… 

Keine Hektik:Wenn die von Ihnen erzeugte Wärme auf die Kinder überspringen und sie zum Spielen motivieren soll, ist es wichtig, dass Sie alles mit einer gewissen Ruhe machen. Aber da wir ja jetzt Zeit haben, können Sie sich ja die Zeit nehmen… 

Darf das Wohnzimmer zum Spielplatz werden?Ja, Kinder brauchen Platz und Material zum Bauen und Spielen, wobei das Häuser – und Versteck bauen eine besonders wichtige Tätigkeit ist. Aber es ist gut, wenn Sie darauf bestehen, dass es zu gewissen Tageszeiten den Erwachsenen gehört, die es wieder nach ihrem Geschmack einrichten. Das Aufräumen des Spielplatzes passiert am Besten gemeinsam und auch dafür sollte man sich Zeit nehmen. 

Liebe Eltern, sicher haben Sie selber viele interessante praktische Ideen. Vielleicht hat jetzt das besonders intensive Leben mit Ihren Kindern einigen von Ihnen solchen Spaß gemacht, dass Sie nach der Epidemie Lust haben, in einem Kindergarten zu arbeiten. Und vielleicht haben Sie gemerkt, wie anders der vielzitierte Spruch von Erich Kästner im Leben mit kleinen Kindern plötzlich klingt:

Es gibt nichts Gutes

außer: man tut es.

 

Literatur:

(1) de.wikipedia.org/wiki/Die_Nash%C3%B6rner

(2) Michel Vaujour.-  L’amour m‘as sauvé du naufrage. 2018