Ein Beitrag von Christian Boettger mit einem Vorwort von Constanza Kaliks: Ein Dank an Tobias Richter für 33 Jahre Arbeit an der Entwicklung des Lehrplanes im Auftrag des «Haager Kreis».
Aus der intensiven Zusammenarbeit Rudolf Steiners mit dem Kollegium der ersten Waldorfschule waren – ganz aus der Praxis des Unterrichtens, der beteiligten Menschen und des schulischen Umfelds heraus – die Aufzeichnungen entstanden, die der Beginn eines reichen Fundus an Inspiration für die pädagogische Arbeit an Waldorf- und Steinerschulen bildeten.
Ursprünglich nicht als Plan gedacht, wurden sie dennoch oft als normativ ausgelegt – was mitunter zu kulturellen oder zeitbedingten Herausforderungen führte.
Angesichts der immer internationaleren Realität der Waldorf- und Steiner-Schulbewegung erteilte der Haager Kreis vor 33 Jahren Tobias Richter den Auftrag, die weltweiten, reichen Erfahrungen aus dem Unterricht zu dokumentieren und abzubilden. So entstand die erste Ausgabe von Pädagogischer Auftrag und Unterrichtsziele einer Freien Waldorfschule.
Wenige Monate nach der Erscheinung der im Januar 2025 fertiggestellten, vollständig überarbeiteten Version des Buches1 verabschieden sich der Herausgeber Tobias Richter und Christian Boettger, Geschäftsführer der Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen, die seit der ersten Ausgabe die Arbeit am Lehrplan koordiniert und intensiv begleiteten.
Mit Freude und Dankbarkeit nehmen wir die Gelegenheit dieses Moments wahr, den grossen Dank für die immense Arbeit weltweit auszusprechen. Tobias Richter und Christian Boettger haben ein Netzwerk vieler Pädagogen und Pädagoginnen gebildet, das die Frage der Lerninhalte und der angemessenen Lernmethoden entwickelt hat. Diese Arbeit zeugt von der Kraft der Aufgabe, ständig erneut ein Werdendes zu gestalten, es zu entwickeln, zu ändern, Neues einzubeziehen und eventuell nicht mehr Zeitgemässes zu hinterfragen.
In seiner Ansprache am 31. Mai in Budapest betonte Christian Boettger im Zusammenhang mit dem Dank an Tobias Richter für seine unermüdliche und inspirierende Arbeit an diesem sich fortwährend in Entwicklung befindenden Werk (wir blicken zurück auf sieben intensive Überarbeitungen/ Auflagen) die Wichtigkeit dieses Werkes für die weltweite Waldorfschulbewegung.
Eine Arbeit, die in jedem Kollegium, in jedem Land immer wieder neu aufzugreifen ist und für die diese hervorragende Leistung eine Inspirationsquelle sein kann.
Für die Internationale Konferenz der Waldorf- und Steinerschulen
Constanza Kaliks
Zur Entwicklung des Lehrplanes
Wenn man heute 106 Jahre nach dem ersten Lehrerkurs die Spuren des Lehrplans verfolgt, so findet man, dass Rudolf Steiner schon im ersten Lehrerkurs mit den angehenden Lehrern und Lehrerinnen intensiv an Lehrplanfragen gearbeitet hat. In den dann folgenden fünf Jahren in den Konferenzen mit dem ersten Kollegium an der Uhlandshöhe war die Entwicklung des Lehrplanes ein fortlaufendes Thema (Zdražil 20192). Die dann nach 1925 folgende erste Ausgabe eines Lehrplanes von Caroline von Heydebrand3, der auch heute noch erhältlich ist und die detaillierte Zusammenstellung von E. A. Karl Stockmeyer4 würden heute – so wichtig sie früher waren – für die Waldorfschulen im deutschsprachigen Raum und weltweit nicht mehr ausreichen.
Das Verantwortungsteam war sich in den zurückliegenden Jahren immer des Spannungsverhältnisses bewusst, die solch eine Publikation erzeugen kann. Aber es war für das Team auch erstaunlich zu erfahren, dass für einige Lehrerinnen und Lehrer die von zahlreichen Kolleginnen und Kollegen sorgfältig ausgewählten Charakterisierungen der Entwicklungssituation der Altersstufen, der methodischen Anregungen und der vielfältigen inhaltlichen Angebote als eine Einschränkung ihrer Arbeit in der Klasse erlebt wurden. Das Gegenteil war immer intendiert und drückt sich ja auch im Titel des Buches aus. Es sollte sich gerade auf der Grundlage dieser Verschriftlichung die Intuitionsfähigkeit in der Begegnung mit den Schülerinnen und Schülern steigern. Wenn wir in der Schulbewegung dieses Werk und die ständige Arbeit daran nicht hätten, wären wahrscheinlich die staatlichen Vorgaben auch für die Waldorfschulen noch präsenter als sie jetzt schon insbesondere in Bezug auf die Abschlüsse sind; die Fächerhierarchie der staatlichen Lehrpläne würde noch leichter in unseren Schulen zum Tragen kommen und wir hätten weniger in der Hand, um die positive Wirkung des angestrebten Gleichgewichts von künstlerisch-handwerklichen und kognitiven Fächern zu sichern oder auszubauen. Mit der Arbeit von den über 100 Kolleginnen und Kollegen in allen Fachbereichen an der neuen Ausgabe – und wenn man zurück blickt auf die letzten 33 Jahre, so waren es sicher insgesamt über 300 Menschen – entsteht in der Schulbewegung ein kontinuierliches Bewusstsein für die Weiterentwicklung der Waldorfpädagogik und eine Anpassung an die Entwicklungsherausforderungen, die die jeweils aktuellen Generationen von Lernenden mitbringen. Und dieser «Richter-Lehrplan», wie er verkürzt genannt wird, ist schliesslich für viele Eltern zur beliebten Nachschlagequelle geworden, wenn sie sich über die Arbeit in der Schule und die Entwicklungssituation ihrer Kinder- oder Jugendlichen informieren wollen. Auch diesbezüglich sichert das Buch die Arbeit in den Schulen. In vielen Bundesländern Deutschlands gilt dieser Lehrplan sogar den Schulbehörden als Genehmigungsvoraussetzung einer Freien Schule. Man könnte verkürzt sagen, dass die Arbeit an diesem Lehrplan, der sich als Orientierungsplan versteht, zu einem Schutzschild der Waldorfpädagogik nach aussen geworden ist.
Gleichzeitig sei aber an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass auch Gefahren aus dem Umgang mit der Publikation entstehen können, wenn zum Beispiel die vorgeschlagenen beziehungsweise die möglichen Unterrichtsinhalte als Normen einer «Waldorfschulbehörde» aufgefasst werden. Keine Lehrperson sollte als Begründung für einen ausgewählten Stoff sagen müssen, das stehe so im Lehrplan und gehöre daher auch in ihren Unterricht. In Aus- und Fortbildungen müssen wir deutlich vermitteln, dass die Begründung für jeden Inhalt individuell im Zusammenhang mit den Bedingungen der Kinder, der Schule und der gesellschaftlichen Situation erarbeitet sein sollte. Rudolf Steiner nannte das im ersten Lehrerkurs «Ideal und Schmiegsamkeit».
Die zweite Gefahr besteht in einer fortlaufenden Addition von gelungenen Unterrichtsthemen und Anregungen. Dies würde zu einer zeitlichen Überforderung der Lernenden und Lehrenden führen. So ist in der neuesten Publikation das Kapitel «Synergien» zu finden, wo fächerübergreifende Themen oder der jahrgangsübergreifende Unterricht dargestellt sind. In diesem Feld liegt für die nächsten Jahre sicher ein starkes Potential. In Zukunft gilt es sicherlich immer stärker das Exemplarisch für jedes Fach und jede Jahrgangsstufe zu finden.
Die dritte Gefahr liegt in der Übertragung der im deutschen Sprachraum intensiv entwickelten Themen auf andere Kulturräume. Bei von der Pädagogischen Forschungsstelle selbstverständlich genehmigten Übersetzungen sei immer darauf hingewiesen, dass sich alle Inhalte zunächst auf den deutschen Sprachraum in Europa beziehen und nur als Anregungen gelten können, etwas Entsprechendes in anderen Kulturräumen zu entwickeln. Gleichzeitig gilt, dass es notwendig erscheint, in allen Kulturräumen des 21. Jahrhunderts eine Multiperspektivität zu fördern.
Ein grosser Dank gilt den vielen Kolleginnen und Kollegen, die sich für diese Arbeit eingesetzt haben. Insbesondere aber dem Leitungsteam um Tobias Richter als Herausgeber: Petra Hamprecht Krause (Klassenlehrerin in Nürtingen, Deutschland), Vanessa Pohl, (Fremdsprachenlehrerin in Aesch, Schweiz), Rita Schuhmacher (Oberstufenlehrerin Deutsch in Kassel, Deutschland) und Alexander Hassenstein (Pädagogische Forschungsstelle).
Christian Boettger, 31. Mai 2025 in Budapest
Fussnoten
1: Tobias Richter, Pädagogischer Auftrag und Unterrichtsziele – Vom Lehrplan der Waldorfschulen, Stuttgart 2025
2: Tomáš Zdražil, Freie Waldorfschule in Stuttgart 1919 – 1925, Stuttgart 2019
3: Caroline von Heydebrand, Vom Lehrplan der Waldorfschulen, Stuttgart, 11. Auflage 2009
4: E.A. Karl Stockmeyer, Angaben Rudolf Steiners für den Waldorfschulunterricht, Stuttgart, 7. Auflage 2017