Der Tagungstitel der World Teachers' Conference 2023 «Bejahend – nährend – vertrauend, eine Erziehung für heute und morgen» aus einem neuen Blickwinkel.
Trevor Mepham*
«O Herr!
Du hast mir einen Körper gegeben,
in dem die Herrlichkeit deiner Macht leuchtet,
Wunderbar gestaltet über den Tieren,
Innen in nützliche Teile gegliedert,
und aussen mit viel Zierrat geschmückt.
Die Glieder sind selten in Ruhe,
Und für den Himmel gemacht:
Arterien gefüllt
Mit himmlischen Geistern:
Venen, in denen das Blut fliesst,
die mein ganzes Fleisch erfrischen,
wie Flüsse:
Sehnen durchdrungen von dem Geheimnis
Von wunderbarer Kraft,
Festigkeit,
Gefühl.» [1]
Diese Worte wurden vor fast 400 Jahren von dem metaphysischen Dichter und Priester Thomas Traherne geschrieben. Er wurde in Hereford geboren und lebte nur 37 Jahre bis zu seinem Tod im Jahr 1674 in London.
Wir neigen dazu, die Vorstellung für selbstverständlich zu halten, dass wir als menschliche Wesen einen Körper haben – einen physischen, materiellen, sichtbaren Körper – einen Körper, der gleichbedeutend mit Leben ist und untrennbar mit dem, was wir sind. Dennoch ist die Partnerschaft zwischen Körper und Geist seit Jahrhunderten Gegenstand philosophischer Debatten und Auseinandersetzungen.
In seinen Vorträgen über Erziehung hat Rudolf Steiner die primäre Erziehungsaufgabe darin gesehen, «den Seelengeist mit dem Lebensleib in Einklang zu bringen» [2]. Diese Aussage geht über den Körper-Geist-Rahmen hinaus und weist auf ein umfassenderes und differenzierteres Bild des Menschen hin.
Auf der Suche nach einem zeitgenössischen Ausdruck für diese Partnerschaft zwischen dem lebendigen Körper und dem Seelen-Geist findet eine Aussage von Jean-Dominique Bauby (1952-97) eine gewisse Resonanz: «Ich bin lebendig, ich kann denken und niemand hat das Recht, mir diese beiden Realitäten abzusprechen.» [3]
Bauby war ein Journalist, der im Alter von 43 Jahren einen katastrophalen Schlaganfall erlitt. Er lag 20 Tage lang in einem tiefen Koma. Als er aufwachte, war er eingeschlossen, unfähig, irgendetwas zu tun, ausser mit dem linken Augenlid zu blinzeln. Im Laufe von zwei Monaten schrieb oder blinzelte Bauby mit Hilfe einer unerschrockenen Sprachtherapeutin seine Memoiren. Zwei Tage nach der Veröffentlichung des Buches – Die Taucherglocke und der Schmetterling – starb er an einer Lungenentzündung.
Die meiste Zeit seines Lebens war Bauby empfindungsfähig. Dann verlor er fast vollständig diese Fähigkeit. Doch sein Bewusstsein blieb wach, und sein Leben flackerte weiter. Das Auf und Ab des Lebens, das Licht des Denkens – das waren die Grundlagen, die Essenz von Baubys Existenz, nachdem sein Gefühlsleben mehr oder weniger erloschen war.
Wissen auch ohne Gedächtnis
Drei weitere Bilder: Wenn ich meine Mutter besuche, die 92 Jahre alt ist und an fortgeschrittener Alzheimer-Krankheit leidet, besteht ein grosser Teil des Besuchs darin, dass sie sich erkundigt, welcher Wochentag heute ist. Diese Frage wird vielleicht zwei oder drei Mal pro Minute gestellt. Ein weiteres Thema ist, dass sie versucht herauszufinden, ob an diesem Tag noch jemand anderes kommt. Ich habe einige Zeit gebraucht, um zu erkennen, dass meine Mutter sich zwar immer freut, mich zu sehen, aber denkt, ich sei eine der Betreuerinnen der Agentur. Deshalb versucht sie einfach herauszufinden, wie viele Besuche an diesem Tag noch stattfinden werden. Vor kurzem haben meine Schwester und ich einen gemeinsamen Besuch gemacht und meine Mutter war überrascht, dass wir zu zweit waren. Natürlich kommt das Pflegeteam normalerweise immer nur einzeln und nie zu zweit! Als wir sie fragten, erklärte sie ganz sachlich, dass sie eine Tochter und einen Sohn habe, aber sie habe die Verbindung zwischen den Menschen, die vor ihr standen und ihren «gegenwärtigen» Erinnerungen an ihre Kinder verloren.
Am anderen Ende der Lebensskala steht mein jüngstes Enkelkind, das gerade vier Monate alt ist. Bei den letzten Besuchen hat er angefangen zu lächeln und zu glucksen, wenn ich ihn hochnehme. Dann schläft er vielleicht einfach ein oder verbringt einige Zeit damit, einen meiner Daumen zu ergreifen, während ich im Zimmer herumschaukle und mein Körper Erinnerungen an die alten und manchmal vertrauten Rhythmen abruft. Er hat nicht viel Gedächtnis – wie sollte er auch? Aber er ist allwissend!
Im September 2021 erschien in der «Hindustan Times» ein Bericht über den Tod eines 14-jährigen Jungen aus Pakistan, der mit einer angeborenen Schmerzunempfindlichkeit geboren wurde. Nachdem er seit seinem 10. Lebensjahr als Strassenkünstler einige extrem gefährliche Stunts vollführt hatte, darunter das Laufen über glühende Kohlen oder das Zerschneiden seiner Arme mit Messern, endete sein Leben, als er von einem Dach sprang. Bei der angeborenen Schmerzunempfindlichkeit, einer seltenen genetischen Erkrankung, fehlt den Betroffenen im Wesentlichen die Fähigkeit, physische Schmerzen im Körper wahrzunehmen. [4]
Im allgemeinen Sprachgebrauch ist der Begriff «Körper» auf den ersten Blick einfach, bei näherer Betrachtung wird das Konzept jedoch immer komplexer und reichhaltiger. Ähnlich verhält es sich mit dem Geist oder der Kognition. In Wörterbüchern leitet sich der Begriff «Körper» von der Vorstellung des «Hauptteils» ab, also von etwas, das im Wesentlichen materiell ist. In einer Autofabrik wird die Karosserie jedoch nicht als das ganze Auto betrachtet, während Beethovens Werk ein sichtbares Format annehmen kann, obwohl seine Musik im Grunde nicht materiell ist.
Anstatt mit der Idee des Körpers als etwas mit Inhalt, Materielles, Fixes und Selbstverständliches abzuschliessen, schliesst ein weiter gefasster Körperbegriff die Konzepte von Form, Teil, Feld und Schicht ein. Der Begriff «Körper» kann auf eine Gesamtheit hinweisen, aber auch auf Bestandteile eines integrierten Ganzen, wie die griechischen Seher und Philosophen mit den Begriffen der vier Elemente und der vier Körpersäfte andeuteten. Steiner hat diese Einsichten und Erkenntnisse in seine Forschungen über das Wesen des Menschen und der Welt einfliessen lassen.
In den letzten Jahrzehnten ist die Frage, ob der Geist einen Körper braucht, im Kontext von Robotik, Kybernetik und künstlicher Intelligenz wieder aufgetaucht. Was den Einsatz von Technologie zur Unterstützung und Verbesserung des Körpers angeht, so ist die Menschheit schon seit einiger Zeit auf diesem Weg. Man braucht nur an die Technologie von Brillen, Hörgeräten und Prothesen zu denken, um zu erkennen, dass technische Ergänzungen, Ersetzungen und Verbesserungen seit Jahrhunderten Teil der menschlichen Kultur sind. Eine der ersten dokumentierten Brillen wurde 1284 von Salvino D'Armate in Italien hergestellt.
Eine Argumentationslinie lautet: Der Körper in seinem «natürlichen» Zustand nähert sich seinem Verfallsdatum; er ist klobig und braucht viel Pflege und Wartung. Wir zucken kaum mit der Wimper, wenn es um «frühe» Formen der Implantation und technischer Verbesserung geht, wie z. B. Herzschrittmacher, Laserverfahren zur Korrektur des Sehvermögens und Cochlea-Implantate. Neue Technologien – zum Beispiel Roboterstrukturen, so genannte Exo-Sskelette [5] – werden die menschlichen Sinne und körperlichen Aktivitäten weiterhin erweitern und verbessern. In Zukunft wird sich die Beziehung zwischen Körper und Bewusstsein lockern, und die Technologie – die Kybernetik – wird die Aktivitäten des lebenden Körpers zunehmend ersetzen. Der Körper verliert an Bedeutung für unsere Existenz, er kann sogar zu einer Belastung werden. Mit anderen Worten: Der Körper wird ein wenig anachronistisch. Was seine Funktion als Vehikel oder Werkzeug des Bewusstseins angeht, fehlt ihm die Raffinesse der neuen Technologien, und er ist ein minderwertiges Gefäss, um die Bandbreite des Zukunftsdenkens aufzunehmen.
Bewusstsein in einer Cloud?
Gibt es eine Linie oder eine Grenze zwischen der Unterstützung, Verbesserung und Wiederherstellung von Empfindungen – Gefühlen, Sinneswahrnehmungen – und ihrer völligen Umgehung? Mit anderen Worten: Wird es eines Tages möglich sein, das menschliche Gehirn, den menschlichen Geist, das menschliche Bewusstsein in eine Art «Cloud» oder einen personalisierten Datenknotenpunkt zu laden? Im Moment scheint es erhebliche Skepsis und Zweifel an einer solchen Aussicht zu geben. In einem kürzlich erschienenen Artikel in «The Conversation» [6] gibt der kognitive Neurowissenschaftler Guillaume Thierry einen Überblick über die aussergewöhnlichen, «atemberaubenden» Kapazitäten und die Komplexität des menschlichen Gehirns und kehrt dann zu dem mysteriösen Rätsel des Lebens zurück:
«Lebewesen wie Menschen und Tiere existieren, weil sie lebendig sind. Sie mögen denken, dass ich gerade etwas völlig Triviales gesagt habe, das an Dummheit grenzt, aber wenn Sie darüber nachdenken, steckt mehr dahinter, als man auf den ersten Blick sieht. Ein lebender Geist erhält über die Sinne Informationen aus der Welt. Er ist mit einem Körper verbunden, der auf der Grundlage physischer Empfindungen fühlt. Dies führt zu physischen Manifestationen wie Veränderungen der Herzfrequenz, der Atmung und des Schwitzens, die wiederum spürbar sind und zur inneren Erfahrung beitragen. Wie würde das bei einem Computer ohne Körper funktionieren?»
Sein Zwischenfazit wird von zwei grundlegenden Fragen eingerahmt: «Wie könnte der Geist ohne Interaktion mit der Welt, wie subtil und unbewusst auch immer, auch nur eine Minute lang funktionieren? Und wie könnte er sich weiterentwickeln und verändern? Wenn der Geist, ob künstlich oder nicht, keinen Input oder Output hat, dann ist er ohne Leben, genau wie ein totes Gehirn.»
In einem anderen Aufsatz mit der Frage Braucht der Geist einen Körper? erklärt der Mitautor Alex McKeown [7]: «Es ist leicht, die Rolle der Verkörperung zu übersehen und anzunehmen, dass die einzige Komponente, die für den moralischen Status wesentlich ist, die geistige Reife ist.»
Er betont, dass die Verkörperung in Verbindung mit dem, was als «geistige Reife» bezeichnet wird, eine grundlegende Rolle dabei spielt, «eine Person in die Lage zu versetzen, sich selbst zu reflektieren, Ideen und Pläne zu haben, die auf die Zukunft ausgerichtet sind, Werte zu entwickeln und sich der persönlichen Antriebe, Wünsche usw. bewusst zu sein».
Sinnesorgane – die Fenster zum Aussen
Am Anfang der Überlegungen über den lebendigen, physischen Körper, über das lebenswichtige Bindeglied zwischen der «äusseren» Welt (der Welt der Dinge und der Phänomene) und der verborgenen, inneren Welt des Geistes sowie über die gelebte Erfahrung stehen die Sinne.
Der Mensch ist sensibel. Wir sprechen von «zur Vernunft kommen», von gesundem Menschenverstand, von Unsinn und Sinnstiftung. Wenn ich meine Sinne verliere, bin ich der Mittel beraubt, mit denen ich der Welt begegne.
Unsere Sinne, unsere Sinnesorgane sind wie Türen und Fenster. Sie öffnen uns für die Welt, aber sie begrenzen oder verschliessen uns auch vor Erfahrungen mit der Welt. Sie lassen Schichten und Aspekte dessen zu, was wir als Realität bezeichnen; sie filtern aber auch unbekannte Dimensionen und Ebenen der Realität heraus oder wehren sie ab, wenn das nicht zu oxymoronisch gemeint ist!
Durch unsere Sensibilität, unsere Empfindsamkeit, nehmen wir die Nahrung der Wirklichkeit zu uns; wir verdauen die Welt und werden durch unsere Sinne genährt. Die Empfindsamkeit gibt dem Leben der Seele Raum und ermöglicht es ihr, die äusseren Phänomene innerlich zu erleben. Aktivität, Beziehungen und das Leben selbst sind die Blüten und Früchte der Empfindsamkeit.
Die Dichterin und Naturforscherin Diane Ackerman [8] drückte es so aus: «Der Geist wohnt nicht wirklich im Gehirn, sondern reist auf Karawanen von Hormonen und Enzymen durch den ganzen Körper, um den zusammengesetzten Wundern, die wir als Berührung, Geschmack, Geruch, Hören und Sehen katalogisieren, einen Sinn zu geben.» Kurz gesagt: Wir erforschen, lernen und verstehen die Welt durch unseren Körper und unsere körperlichen Sinne.
Der Prozess der Reflexion über den menschlichen Körper und das Innere des Menschen wirft viele Fragen auf. Es wird zu einer regenerativen Übung, in der Fragen zu einigen Antworten führen, die aber eher neue und weitere Fragen aufwerfen. Steiner trug zu diesem Prozess mit seiner Beobachtung bei, dass jeder Mensch eine eigene Spezies ist. [9] Die Vorstellung, dass der Mensch ein «ganzes» Ereignis ist – ein ganzheitlicher, integrierter Ansatz für das Leben und das Lernen – verdient ein tiefgreifendes und weitreichendes Nachdenken bei Pädagogen und politischen Entscheidungsträgern.
Im 21. Jahrhundert ist ein sicherer Weg für die Menschheit so ziemlich das Gleiche wie ein Weg, den Eltern und Erzieher beschreiten können. Wenn wir unser Vertrauen und unsere Dankbarkeit in den Körper setzen – in seine tief liegende Weisheit, seine «nützlichen Teile», seine «Kraft, Stabilität und sein Gefühl» – dann können wir auf diese Weise durch Aktivität, Erfahrung und Neugier die Seele nähren. Und indem wir die Seele auf vielfältige Weise nähren, bejahen wir das menschliche Wesen und sorgen für die Zukunft – der Menschheit und der Erde.
Um zum Ausgangspunkt zurückzukehren: Das Lob und die Dankbarkeit für den Körper – «Gliedmassen, die selten zur Ruhe kommen» und die Aktivität des Blutes, das «mein ganzes Fleisch wie Flüsse erfrischt» – die Traherne vor vier Jahrhunderten zum Ausdruck brachte, klingen über die Jahre nach. Das Geheimnis des Körpers als Gefäss, als Heimat, als Drehscheibe für mein entstehendes Menschsein drückt der Zen-Mönch aus Vietnam, Thich Nhat Hanh, in diesen Zeilen ganz anders aus:
«Dieser Körper bin nicht ich.
Ich bin nicht durch diesen Körper begrenzt.
Ich bin Leben ohne Grenzen.
Ich bin nie geboren worden,
und ich bin nie gestorben.» [10]
Thich Nhat Hanh verstarb im Januar 2022 im Alter von 95 Jahren. Im Jahr 2014 erlitt er einen Schlaganfall, der ihn sprachunfähig und in der rechten Körperhälfte gelähmt machte. 2018 zog er zurück in seine Heimat Vietnam und verbrachte die letzten vier Jahre seines Lebens in einem Kloster. Der Körper wurde zurückgelassen, die Grenzen verschwanden, das Leben der Seele flüchtete, und wohin mit dem Geist?
*Trevor Mepham ist Mitglied des Haager Kreis – Internationale Konferenz für Steiner Waldorf Pädagogik
Literaturhinweise
[1] Auszug aus A Serious and Pathetical Contemplation of the Mercies of God, in Several Most Devout and Sublime Thanksgivings for the Same von Thomas Traherne, 1699 posthum veröffentlicht.
[2] Rudolf Steiner: The Foundations of Human Experience, Lecture 1, Anthroposophic Press (1996), Hudson, NY
[3] Jean-Dominique Bauby: The Diving Bell and the Butterfly, Fourth Estate (1997), London
[4]Congenital analgesia: The agony of feeling no pain (heruntergeladen am 14.11.2022)
[5]From Human To Cyborg: Are You Willing To Augment Your Body? (heruntergeladen am 16.11.2022)
[6]When will I be able to upload my brain to a computer? (heruntergeladen am 16.11.2022)
[7] Alex McKeown, David R. Lawrence: Does the Mind Need a Body? (heruntergeladen am 14.11.2022)
[8] Diane Ackerman, A Natural History of the Senses, Vintage Books (1991), NY
[9] Rudolf Steiner: Theosophy, Chapter 2, Anthroposophic Press (1994), Hudson, NY
[10] Thich Nhat Hanh, Plum Village Chanting and Recitations Book (2000)