Albrecht Schad, Professor an der Freien Hochschule Stuttgart, findet in diesem Beitrag klare Worte für den Zustand der Erde. Er erinnert auch an Goethes Worte: Im Leben hat immer alles mit allem zu tun. Was das für uns Menschen und den Planeten Erde bedeutet, erfahren Sie in diesem Artikel.
Ich weiss nicht, ob Sie es wussten: Wir leben auf einem «Planeten der Hühner». Heute gibt es etwa 23 Milliarden Hühner auf der Erde. Somit gibt es etwa drei Mal so viele Hühner wie Menschen. Sie werden für den Menschen gehalten. Es gab noch nie eine Vogelart, die so häufig vorkam. Das bedeutet auch, dass die Masse dieser Hühner die der wild lebenden Vögel bei weitem übertrifft. Deren Bestände sinken.
In den USA sind in den letzten 50 Jahren fast ein Drittel aller Vögel verschwunden und in Deutschland hat die Masse der Insekten um 75 Prozent abgenommen. Wir erleben nicht nur einen vom Menschen gemachten Klimawandel, wir erleben auch ein vom Menschen gemachtes «Massenaussterben», wie es das vermutlich seit 50 Millionen Jahren nicht mehr gegeben hat.
Die biologische Vielfalt verschwindet in einem beispiellosen Ausmass. Es gibt heute mehr vom Menschen hergestelltes Material, wie etwa Beton, Asphalt, Plastik, Metall, Papier, Glas, als die Biomasse aller Lebewesen zusammen. Und das Heimtückische ist: Wir bemerken es nicht einmal.
Na und?
Es ist inzwischen so: Stellen wir uns vor, es gäbe ab morgen keine Menschen mehr auf der Erde. Selbst in einer Million Jahren würde man noch in den geologischen Ablagerungen bemerken: Da muss damals ein aussergewöhnliches Ereignis stattgefunden haben, eine fundamentale und beispiellose Umgestaltung der Natur.
Aus der Geologie kennen wir fünf Massenaussterben. Wir erleben gerade das sechste. Da könnte man sagen: Na und? Das kennen wir ja schon fünf Mal. Nein, denn der Unterschied ist, dass es keine Vulkanausbrüche und Asteroideneinschläge gab, sondern wir Menschen sind die Ursache.
Auch der Klimawandel ist dramatisch. Im Sommer 2021 brannten in Griechenland und der Türkei die Wälder bei fast 50 Grad Celsius. Und auch die Westküste der USA brannte, wie bereits ein Jahr zuvor, wieder in einem apokalyptischen Ausmass. Im selben Jahr brachte das Sturmtief Bernd sintflutartige Niederschläge nach Mittel- und Westeuropa; die Überschwemmungen hatten ein bisher unbekanntes Ausmass an Zerstörungen zur Folge.
Nicht weniger viele Extremwetterereignisse und Unwetterkatastrophen konnten wir im Jahr 2022 in vielen Teilen der Welt beobachten: beispielsweise den heissesten Sommer in Europa seit Beginn der Wetteraufzeichnungen (der u.a. Hamburg und London einen Hitzerekord von über 40 Grad Celsius brachte), die Hitzewelle in der Antarktis, das extreme Niedrigwasser etwa am Rhein oder am Po, die dramatischen Überschwemmungen in Pakistan, von der 33 Millionen Menschen betroffen waren.
Alles hat mit allem zu tun
In Deutschland sind inzwischen dreissig Prozent der Buchen schon tot oder schwer geschädigt. Das hat es hier noch nie gegeben. Eine wesentliche Ursache liegt in dem vom Menschen verursachten Klimawandel. Die extreme Trockenheit der vergangenen Jahre gibt den sowieso geschwächten Bäumen den Rest. Und auch das andere beherrschende Thema der letzten drei Jahre, die Corona-Pandemie, hat die Problematik wie in einem Brennglas deutlich gemacht: Wir führen als Menschheit inzwischen einen Krieg gegen alles, was Leben ist.
«In der lebendigen Natur geschieht nichts, was nicht in einer Verbindung mit dem Ganzen stehe ….. es ist nur die Frage: wie finden wir die Verbindung dieser Phänomene, dieser Begebenheit (der Natur)?» (Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt, FA 25,33, 1792).
Das ist nicht die Feststellung aktueller Ökologen, sondern das hat Goethe schon vor gut 230 Jahren gesagt. Goethe war ein grosser Kenner des Lebens. Er wusste: Beim Leben hat immer alles mit allem zu tun. Diese Tatsache hat die moderne Naturwissenschaft in grosser Fülle in den vergangenen über 100 Jahren in bewundernswerter Weise ausgearbeitet. Beispielhaft seien hier die Ökologie der Erde und die Physiologie des Menschen genannt.
Schon 1819 spricht Goethe sozusagen als erster Ökologe von der Reinigung der Elemente Erde, Wasser und Luft im Buch des Parsen:
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«Habt ihr Erd´ und Wasser so im Reinen,
Wird die Sonne gern durch Lüfte scheinen,
Wo sie, ihrer würdig aufgenommen,
Leben wirkt, dem Leben Heil und Frommen.»
(West-östlicher Diven, Buch des Parsen, Vermächtnis alt persischen Glaubens)
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Goethe stellt hier schon unsere zentrale Zukunftsfrage: Entweder wir folgen dem Vermächtnis des Parsen und reinigen, erhalten Erde, Wasser sowie Luft sauber, oder wir gehen den Weg der Zerstörung, der Selbstzerstörung und der Weltzerstörung.
Am 8. Juni 1787 schreibt Goethe eine Art prophetische Vision der Zukunft an Frau von Stein, die heute nach über 230 Jahren vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie Konturen gewinnt, nämlich dass «zu gleicher Zeit die Welt ein grosses Hospital und einer des anderen Krankenwärter werden wird.» (Brief an Charlotte von Stein).
Humorlose Natur
Über dem Portal dieses «grossen Hospitals» steht die Diagnose geschrieben: die «Krankheit zum Tod». Nach Goethe entgeht man dieser «Krankheit zum Tod» nur, wenn man die Ursachen der Krankheit erkennt, die Ursachen meidet oder ihnen soweit möglich aus dem Weg geht und sich konsequent und aktiv um Gesundung bemüht. Worin sieht Goethe die Ursachen der «Krankheit zum Tod»?
Das spricht er altersweise 1829 folgendermassen aus: «aber die Natur versteht gar keinen Spass, sie ist immer wahr, immer ernst, immer strenge; sie hat immer Recht, und die Fehler und Irrtümer sind immer des Menschen.» (Gespräche mit Eckermann. 2. Teil, 13.2.1829). Er fordert uns also mit diesen Worten auf, die Wahrheit der Natur als wirkmächtigste Bedingung des Lebens zu erkennen und anzuerkennen. Die Nichtbeachtung dieser goetheschen Wahrheit führt zur Selbstzerstörung des Menschen und zur Zerstörung unseres Planeten.
Die zweite Ursache, die Goethe erkennt und die er z.B. den Romantikern vorwirft, ist die Rangerhöhung des Ideellen. Dies führt, wenn man Goethe folgen will, zu einer nachhaltigen Immunschwächung des Lebens. Er spricht es folgendermassen aus: «Alles Ideelle, sobald es vom Realen gefordert wird, zehrt endlich dieses und sich selber auf.» (Sprüche in Prosa, FA 13, 34). Für Goethe kommt dies einer lebensgefährdenden Realitätsverweigerung nahe, mit fatalen Folgen.
Goethe bezieht dies z.B ganz direkt auf das Leben seines hoch geschätzten Freundes Schiller. So sagt er z.B.: er ging «zur ideellen (Freiheit) über, und ich möchte fast sagen, dass diese Idee ihn getötet hat denn er machte dadurch Anforderungen an seine physische Natur, die für seine Kräfte zu gewaltsam waren.» (Gespräche mit Eckermann, 1. Teil, 18.1 1827).)
Also die Missachtung der Wirkmächtigkeit der Natur, des Physisch-Lebendigen auf der einen Seite und das Stellen des Ideellen über das Reale auf der anderen Seite sind die beiden Hauptursachen für die grosse Immunschwäche, die «Krankheit zum Tod» und damit dem Weg in das «grosse Hospital».
Das Problem, dem wir auch heute vielfach begegnen ist, dass viele Menschen entweder nur die Wirkmächtigkeit der Natur in den Blick nehmen und das Ideelle aus den Augen verlieren oder vor allem das Ideelle in den Blick nehmen und die Wirkmächtigkeit der Natur missachten.
Nun kann es nicht darum gehen, sich für das eine oder andere zu entscheiden. Sondern es ist wichtig, beide Blickrichtungen zu üben, beide Blickrichtungen ernst zu nehmen. Das ist schwierig, weil wir Menschen meist so beschaffen sind, dass uns entweder das eine oder das andere mehr zugänglich ist. In den vergangenen drei Jahren konnte man wahrnehmen, welche dramatischen Folgen es hat, wenn man dem Rat Goethes nicht folgt.
Gleichgewicht üben
Wie entkommt man nun der Krankheit zum Tod? Goethe begegnet dieser Immunschwächung durch ein übendes Lebend, das er vor allem verstanden hat als Praxis der Ermutigung. Für Goethe kommt die eigentliche Hilfe aber durch die vielleicht schwierigste Tugend, die Mässigung oder Temperantia wie er sie nennt. Denn die Temperantia kann nicht nur alle Extreme mässigen, sondern auch alle anderen Tugenden mässigen. Denn jede Tugend die extrem durchgesetzt wird, wird selber zur Untugend. «Die Tugend des Masshaltens erweist sich damit als Quellgrund Goethescher Lebensklugheit, der es gelingt, die Affekte und Leidenschaften des Menschen der großen Vernunft der Natur unterzuordnen. Nur auf diese Weise kann der Mensch vor der Selbstzerstörung bewahrt werden.» (M. Osten). Und nur dadurch können wir die Zerstörung der Erde aufhalten.
So können wir als Zentrale Forderung des Lebens bemerken: Masshalten. Die Mitte, das Gleichgewicht Pflegen. Für Goethe geht es darum die Mitte zu pflegen und die Extreme abzumildern und zu vermeiden. Das hat er dem Leben abgelauscht. Damit ist nicht gemeint, dass sich durch die Pflege der Extreme, der Pole eine Mitte ergibt, das ist tödlich.
Nochmal: Masshalten, Gleichgewicht üben, Extreme vermeiden.
Hier kommt die Wissenschaft der Ökologie ins Spiel. Ökologie heisst so viel wie «Lehre des Haushalts». Sie beschreibt die Beziehungen der Lebewesen untereinander und ihre Wechselwirkungen mit der Erde. Goethe haben wir als «ersten» Ökologen schon kennen gelernt. Der grosse Ernst Haeckel definierte den Begriff in den 1860er-Jahren. Im 18. und 19. Jahrhundert sprach man wahlweise auch von Ökonomie, so zum Beispiel auch Goethe. Auch Rudolf Steiner dürfen wir mit seinem realistischen und ganzheitlichen Blick auf Kosmos, Erde und Mensch als einen frühen Vorläufer der Ökologie betrachten, auch wenn es damals noch wenig konkrete Kenntnisse über ökologische Zusammenhänge gab.
Die Ökologie ist dabei, eine Leitwissenschaft zu werden. Unzählige Biologen und Biologinnen erforschen seit über hundert Jahren die Lebenszusammenhänge der Lebewesen untereinander und mit dem Urorganismus Erde. Und doch kennen wir grosse Teile dieser Zusammenhänge noch nicht.
Seit einigen Jahren taucht eine Strömung auf, die sich spirituelle Ökologie nennt. Unter diesem Label sind sehr verschiedene Menschen unterwegs. Beispielsweise Tich Nhat Hanh: vietnamesischer buddhistischer Mönch, Wendell Berry: Romancier und Technikhasser, Richard Rohr: Franziskanerpater, US-Prediger, Bill Plotkin: Tiefenpsychologe, Mary Evelyn Tucker: Religionswissenschaftlerin, Oren Lyons: Indianerhäuptling und viele andere. Sie haben alle eines gemeinsam: Sie haben in der Regel keine naturwissenschaftliche Ausbildung und keine entsprechenden Kenntnisse. Sie wollen also das, was sie nicht genau kennen spirituell beleuchten. Ein schwieriges Unterfangen.
Nein, wir brauchen beides. Durch saubere, reiche naturwissenschaftliche Kenntnisse können wir die Geistseite der Welt nachvollziehbar erarbeiten. Beides ist eines. Es reicht nicht, sich nur einer der beiden Seiten zuzuwenden.
Wenn wir die Zusammenarbeit mit der Erde suchen, wenn wir die Zerstörung der Erde beenden wollen, dann müssen wir die Ursachen kennen und wenn möglich abstellen.
Die Hauptursachen für die Zerstörung der Erde müssen in dieser Reihenfolge genannt werden:
Die Ergebnisse der Ökologie, Mikrobiologie und Molekularbiologie sind in vielfacher Hinsicht atemberaubend. Sie ermöglichen es uns, die Idee einer lebendigen Erde konkreter und nachvollziehbar zu fassen. Heute können wir sagen, wir Menschen verdanken uns der Bildung der Gesteine, dem Leben der Pflanzen und der Tiere. Sie sind Teil von uns und wir sind ein Teil von ihnen (Schad, A.: Vom Leben unsere Erde, 2023). Die Bildung der Gesteine, die Lebenstätigkeit vor allem der Pflanzen aber auch der Tiere hat die Erde in riesigen Zeiträumen so umgestaltet, dass sie für das Leben heimatlicher wurde. Wir können dankbar auf die drei Naturreiche blicken, die uns das Leben auf der Erde ermöglichen. Die kulturelle Tätigkeit des Menschen kann, wenn wir mit dem Leben der Erde zusammenarbeiten, die Entwicklung der Pflanzen, der Tiere und der Landschaften auf eine gemeinsame Zukunft mitnehmen.
Greifen wir zum Schluss noch einmal Goethes Hinweise auf. Ein übendes Leben, sich den eigenen Ängsten stellen und sich nicht von den Affekten leiten lassen. Masshalten in der eigenen Lebensführung. Das ist oft entscheidend für unsere Gesundheit und Masshalten in unserem Umgang mit der Erde.
Die Forderung nach ständigem Wachstum widerspricht den Naturgesetzen. Nur wenn wir die Erde gesund halten, werden wir auf unsere eigene Gesundheit hoffen dürfen. Beides ist auf das engste miteinander verknüpft. Der Unterricht an Waldorfschulen ist per se darauf angelegt, die physisch leibliche und die geistig seelische Entwicklung der Kinder zu berücksichtigen und zu fördern. Er ist per se gesundheitsfördernd. Den Zusammenhang vom Leben der Erde und von unserem Leben nehmen wir aber noch zu wenig in den Blick. Wir sollten damit beginnen, alles von der Idee einer lebendigen Ökologie vom Menschen und der Erde aus zu denken. Alles andere ergibt sich dann von selber, zum Beispiel durch die Kreativität und die vielen guten pädagogischen Ideen der Kolleginnen und Kollegen an den Schulen in aller Welt.
Albrecht Schad
Literatur: